Der Tschernobyl Virus
seine neue Gruppe kritisch. Koch sah an sich runter und sah sich auch in der Gruppe um. Tatsächlich waren alle wenig passend gekleidet für ein Survival-Camp der besonderen Art, mit überleben in einer Geisterstadt, sowie einer Jagd nach mutierten Bestien. Er selbst trug ein weißes Polohemd und einen leichten Pulli darüber sowie eine Jeans. Immerhin waren die Turnschuhe recht robust. Ähnlich gekleidet waren die meisten. Die drei Frauen im Team waren noch unpassender gekleidet. Joanne und Ming Shu trugen einen Rock, und Marie Chudy trug, wie fast immer, Business-Kleidung. Moroz schickte sie zur Kleiderkammer, wo alle mit der Felduniform der ukrainischen Armee ausgestattet wurden. Für Koch war es eine Überwindung, diese grün-braun-gefleckte Uniform anzuziehen. Als bekennender Pazifist war er noch gegen Kriege und Militäreinsätze auf die Straße gegangen. Während seiner Studienzeit hatte er sich politisch sehr engagiert. Jetzt eine Militäruniform zu tragen war ihm zuwider. Sein Blick fiel auf Sebastian Heip. Er schien sogar Spaß an der Sache zu haben. Er hatte seine Uniform schon komplett angezogen, die Stiefel fest geschnürt und stand nun vor dem Spiegel und betrachtete sich zufrieden. Mit seinem Ellenbogen stieß Koch seinen Freund Kempe leicht an und nickte in Richtung Heip. Kempe schaute kurz in seine Richtung und musste grinsen. »Hey, Herr Heip«, Kempe rief in Richtung des jungen Mannes, »steht ihnen gut.«
Heip erschrak etwas und drehte sich zu den beiden. Man sah ihm an, dass es ihm etwas peinlich war, dass sein selbstzufriedener Blick vorm Spiegel entdeckt wurde. Er schloss seinen Spind und ging raus aus der Umkleidekabine. Koch und Kempe lachten. Kopfschüttelnd zogen sie sich fertig an.
Als alle wieder auf dem Exerzierplatz angekommen waren, schüttelte Moroz den Kopf, »In der Zeit, die sie zum Umziehen benötigt haben, haben unsere Soldaten, gefrühstückt, ein Land eingenommen und zu Mittag gegessen. Sie können froh sein, dass sie nicht unter meinem Kommando stehen«, er blickte in die Runde, »zumindest sind sie jetzt passend gekleidet.« Koch sah zu Shu und ihre Blicke trafen sich für einen Sekundenbruchteil. Beide blickten sofort wieder weg. Doch Koch konnte es sich nicht verkneifen, sie aus den Augenwinkeln noch einmal anzusehen. In dieser Uniform sah sie zu seiner Überraschung noch besser aus. Er spürte, dass er sich immer mehr zu ihr hingezogen fühlte. Aber das durfte nicht sein. Er war verheiratet. Was machte Ana? War sie vielleicht wieder mit einer Freundin unterwegs? War seine Tochter gesund? Was würde passieren, wenn er und Ana sich trennen würden? Würde er seine kleine Tochter regelmäßig sehen können? Er spürte einen Schmerz in seinem Herz. Aber es war kein Stich, wie bei Liebeskummer. Vielmehr war es ein realer Schmerz, wie ein Stoß mit einem Ellenbogen. Teufel, es war ein Ellenbogen. Kempe hatte ihn mit dem Ellenbogen leicht gecheckt. Plötzlich merkte Koch, dass Moroz, der insgesamt etwas kleiner war als er selbst, sich vor ihm aufgebaut hatte und mit seiner Nasenspitze nur wenige Zentimeter vor Kochs Gesicht stand, »Ich hoffe, sie hatten angenehme Träume, Dr. Koch.«
Alle, ausgenommen von Koch, lachten. Er selbst merkte, wie das Blut in seinen Kopf schoss.
»Wir werden sie jetzt«, Moroz unterbrach das allgemeine Gelächter und schlagartig wurde es wieder ruhig, »im Umgang mit leichten Waffen unterrichten.« Moroz machte eine Kunstpause und sah jedem einzelnen lange in die Augen, »Ich hoffe, sie wissen, dass es eine große Verantwortung bedeutet, eine Waffe in den Händen zu halten. Kommen sie mit.«
Moroz ging vor und die Gruppe trottete mit bedrückten Gesichtern hinterher. Sie verließen den großen Platz vor der Verwaltung in nördlicher Richtung und gingen an Baracken vorbei aus dem Lager. Sie kamen zu einem großen Schießübungsplatz. Vereinzelt standen Soldaten in den gleichen Uniformen an Schießständen und von überall her waren Schussgeräusche zu hören. Moroz ging, gefolgt von seiner Truppe, direkt zu einem Tisch, auf dem zehn Pistolen und zehn kleine Kästchen, wahrscheinlich mit Patronen gefüllt, lagen. Er griff sich eine der Pistolen und hielt sie der Gruppe hin, »Dies ist eine Walther P38. Eine gute Waffe. Und dazu noch einfach zu bedienen. Bitte bedienen sie sich.«
Alle nahmen sich eine Waffe und jeder betrachtete seine Waffe ganz genau. Koch fühlte sich speiübel. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er eine Waffe in der Hand.
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