Der Unterhändler
Quinn?«
»General, ich drücke mich anscheinend nicht klar genug aus. Orsini hat kein einziges Wort gesprochen, ehe er starb. Wenn er wußte, wer der Dicke war – und ich denke, er hat es gewußt –, so hat er es doch nicht preisgegeben. Ich wüßte nicht, wo ich anfangen sollte. Die Spur ist kalt. Der Dicke und seine Hintermänner und der Verräter, die Informationsquelle – nach meiner Annahme eine hochgestellte Person im Establishment –, sie alle sind in Sicherheit, weil Orsini schwieg. Ich habe keine Asse, keine Könige, keine Damen oder Buben. Ich habe nichts in der Hand.«
»Ach, die Spielkartenanalogie. Ihr Amerikaner sprecht immer über die Asse. Spielen Sie Schach, Mr. Quinn?«
»Ein bißchen, aber nicht gut«, antwortete Quinn. Der Sowjetgeneral trat an ein Bücherregal an der Wand und fuhr mit dem Finger die Reihe entlang, als suche er nach einem bestimmten Buch.
»Sie sollten«, sagte er. »Schach ist, wie mein Metier, ein Spiel, das List und Schläue, aber nicht rohe Gewalt verlangt. Alle Figuren sind sichtbar, und doch … Schach ist noch mehr ein Spiel der Täuschung als Poker. Da, nehmen sie es.«
Er hielt Quinn das Buch hin. Der Autor war ein Russe, der Text englisch. Eine Übersetzung, ein Privatdruck. Die Großmeister – eine Studie.
»Sie sind ›Schach!‹, Mr. Quinn, aber noch nicht schachmatt. Fliegen Sie zurück nach Amerika. Lesen Sie das Buch im Flugzeug. Darf ich Ihnen empfehlen, besonders aufmerksam das Kapitel über Tigran Petrosian zu studieren. Ein Armenier, schon lange tot, aber vielleicht der größte Schachtaktiker, der jemals gelebt hat. Viel Glück, Mr. Quinn.«
General Kirpitschenko rief seinen Einsatzagenten Andrej zu sich und erteilte ihm eine Menge Befehle auf russisch. Dann führte dieser Quinn in einen anderen Raum und übergab ihm einen Koffer voll neuer Sachen, alle in Kanada hergestellt, sowie ein paar weitere Gepäckstücke und Flugtickets. Sie fuhren zusammen nach Birmingham, und Quinn nahm die erste Maschine des Tages, mit der British Midland Dublin anflog. Andrej verabschiedete sich von ihm und fuhr nach London zurück.
In Dublin stieg Quinn nach Shannon um, wartete dort mehrere Stunden und nahm dann den Air-Canada-Flug nach Toronto.
Wie versprochen, las er das Buch in der Abflughalle in Shannon und auf dem Flug über den Atlantik, das Kapitel über Petrosian sogar sechsmal. Als er in Toronto die Maschine verließ, war ihm klar, warum so viele besiegte Gegner dem verschlagenen armenischen Großmeister den Namen »der große Täuscher« verpaßt hatten.
In Toronto wurde sein Paß ebensowenig beanstandet wie in Birmingham oder Dublin. Er wartete in der Zollhalle am Gepäckband auf sein Gepäck, das die Beamten nur kursorisch kontrollierten. Es gab keinen Anlaß, warum er den unauffälligen Mann hätte bemerken sollen, der ihn beim Verlassen der Zollhalle beobachtete, ihm zum Bahnhof folgte und denselben Zug nach Montreal nahm.
In der Hauptstadt von Quebec erstand Quinn einen gebrauchten Jeep Renegade mit geländegängigen Winterreifen, und in einem Campinggeschäft in der Nähe kaufte er die Stiefel, Hosen und gesteppten Anoraks, die man für die Jahreszeit in diesem Klima braucht. Als der Jeep aufgetankt war, fuhr er erst in südwestlicher Richtung, durch St. Jean nach Bedford, und danach direkt nach Süden zur amerikanischen Grenze.
Am Grenzpfahl am Ufer des Lake Champlain, wo der State Highway 89 von Kanada nach Vermont hineinführt, erreichte Quinn wieder das Staatsgebiet der USA .
Am Nordrand des Bundesstaats liegt ein Gebiet, das die Einheimischen schlicht das »Nordöstliche Königreich« nennen. Es umfaßt den größten Teil des Kreises Essex sowie Stücke von Orleans und Caledonia, eine wilde, gebirgige Gegend mit Seen und Flüssen, Bergen und Schluchten, hie und da ein holpriges Landsträßchen und ein kleines Dorf. Im Winter senkt sich eine so fürchterliche Kälte auf das »Nordöstliche Königreich« herab, daß der Landstrich wie zu einem Standfoto erstarrt wirkt – buchstäblich. Die Seen frieren zu, die Bäume erstarren im Frost, der Schnee auf dem Boden knirscht unter den Schritten. Während der kalten Jahreszeit gibt es hier, sofern sie nicht im Winterschlaf liegen, keine lebenden Geschöpfe, außer hin und wieder einem einsamen Elch, der durch die Wälder mit dem knackenden Geäst der Bäume zieht. Leute aus dem Süden witzeln, das »Nordöstliche Königreich« kenne nur zwei Jahreszeiten – den August und den
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