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Der verbotene Ort

Titel: Der verbotene Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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ab.«
    Pierre der Sohn stützte missmutig sein Kinn in die Hand. Er war nicht schön, mit seiner sehr hohen Stirn und der spitz zulaufenden unteren Gesichtspartie. Aber er hatte ungewöhnliche Augen, leblos und ohne Glanz, undurchdringliche Rollläden, vielleicht auch unerreichbar für Mitleid. Wie er da mit vorgeneigtem Körper und rundem Rücken saß, seine Frau mit dem Blick befragend, machte er den Eindruck eines liebenswürdigen und fügsamen Mannes. Adamsberg jedoch hatte den Eindruck, dass hinter der starren Scheibe dieser Augen die Unversöhnlichkeit lauerte.
    »Gab es auch weniger ruhmreiche Affären?«, fragte er.
    »Er sagte immer, die Wahrheit sei eine zweispurige Straße. Drei Männer hat er hinter Gitter gebracht. Einer von ihnen hat sich im Gefängnis erhängt, nachdem er seine Unschuld beteuert hatte.«
    »Wann war das?«
    »Unmittelbar vor seiner Pensionierung, vor dreizehn Jahren.«
    »Wer war das?«
    »Jean-Christophe Réal.«
    Adamsberg bedeutete ihm, dass er den Namen kannte.
    »Réal hat sich an seinem neunundzwanzigsten Geburtstag erhängt.«
    »Gab es Racheschreiben? Drohungen?«
    »Wovon sprechen wir hier?«, mischte sich die Gemahlin ein, die im Unterschied zu ihrem Mann ein harmonisches, ebenmäßiges Gesicht hatte. »Vater sei keines natürlichen Todes gestorben, meinen Sie? Haben Sie Zweifel? Wenn ja, sagen Sie es. Seit heute Morgen hat die Polizei uns noch keine einzige klare Auskunft gegeben. Vater sei tot, doch man wisse noch nicht mal genau, ob es Vater sei. Und Ihr Beamter hat uns noch nicht erlaubt, den Leichnam zu sehen. Warum?«
    »Weil es schwierig ist.«
    »Weil Vater, wenn es denn Vater ist«, fuhr sie fort, »in den Armen einer Nutte gestorben ist? Das würde mich wundern bei ihm. Oder war es eine aus der High Society? Verheimlichen Sie etwas, um ein paar unantastbaren Leuten nicht an den Wagen zu fahren? Denn mein Schwiegervater kannte in der Tat viele Unantastbare, angefangen beim ehemaligen Justizminister, der bis auf die Knochen verseucht ist.«
    »Hélène, ich bitte dich«, sagte Pierre, der sie in voller Absicht reden ließ.
    »Ich erinnere Sie daran, dass es sein Vater ist«, fuhr Hélène fort, »er hat ein Recht darauf, alles zu sehen und alles zu wissen, noch vor Ihnen und vor den Unantastbaren. Wir kriegen den Leichnam zu sehen, oder wir sagen kein Wort.«
    »Das erscheint mir einleuchtend«, sagte Pierre im Ton eines Anwalts, der einen Kompromiss besiegelt.
    »Es gibt keinen Leichnam«, sagte Adamsberg und sah der Frau in die Augen.
    »Es gibt keinen Leichnam«, wiederholte Pierre mechanisch.
    »Nein.«
    »Und? Wie können Sie dann sagen, dass es sich um ihn handelt?«
    »Weil er in seinem Haus ist.«
    »Wer?«
    »Der Leichnam.«
    Adamsberg ging das Fenster öffnen und sah zu den Linden hinauf. Sie standen seit vier Tagen in Blüte, ihr Lindenblütenteegeruch strömte mit dem Lufthauch herein.
    »Der Körper ist zerstückelt«, sagte er. »Er wurde – wie soll ich es ausdrücken? Zerlegt? Zerkrümelt? –, er wurde in Hunderte von Teilen zerschnitten und im Zimmer verstreut. In dem großen Zimmer mit dem Flügel. Nichts ist mehr zu erkennen. Ich rate Ihnen nicht, sich das anzusehen.«
    »Das ist ein Täuschungsmanöver«, die Frau tat unbeeindruckt. »Sie planen irgendeine Gaunerei. Was haben Sie mit ihm vor?«
    »Wir sind dabei, seine Überreste Quadratmeter für Quadratmeter aufzusammeln und in nummerierten Behältnissen zu lagern. Zweiundvierzig Quadratmeter, zweiundvierzig Behälter.«
    Adamsberg wandte sich von den Lindenblüten ab und wieder an Hélène Vaudel. Pierre verharrte in seiner gebeugten Haltung, er überließ die Führung des Gespanns seiner Frau.
    »Man sagt«, begann Adamsberg wieder, »man könne nicht trauern, ohne mit eigenen Augen gesehen zu haben. Ich kenne Leute, die es bedauert haben und die es bei reiflicher Überlegung vorgezogen hätten, zu wissen, ohne zu sehen. Aber diese ersten Bilder stehen Ihnen zur Verfügung«, sagte er und reichte Hélène sein Handy. »Auch ein Wagen nach Garches, wenn Sie es denn wollen. Machen Sie sich erst einmal eine Vorstellung. Die Qualität ist nicht besonders, aber man begreift sehr gut.«
    Hélène nahm das Telefon mit entschlossener Geste und ließ die Bilder durchlaufen. Beim siebten Foto, auf dem die Oberseite des schwarzen Flügels zu sehen war, brach sie ab.
    »Es genügt«, sagte sie und legte das Gerät hin, ihr Blick war leicht verändert.
    »Kein Wagen?«, fragte Pierre sie.
    »Kein

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