Der Verrat
angeschossenen, mit Morphium betäubten Mann auf einer Trage. McMahon hatte sie bestimmt zehnmal gefragt, wo Mitch war, und sie hatte immer wieder geantwortet, dass sie es nicht wisse. Und das entsprach auch der Wahrheit. Nachdem sie von Andrews aufgebrochen war, kehrte sie zum ersten Mal nach einem Monat wieder in ihre Wohnung in Alexandria zurück. Sie stellte das Telefon ab, so wie Rapp es ihr gesagt hatte, und legte sich erst einmal schlafen. Er hatte ihr versichert, dass sie nach den Anstrengungen schlafen würde wie ein Baby – und er hatte recht. Sie schlief ganze sechs Stunden durch. Als sie aufwachte, war es dunkel, und der Anrufbeantworter an ihrem Telefon blinkte. Sie schaltete ihr Handy ein, das sie von der Agency bekommen hatte und das sie eigentlich nie ausschalten durfte. Es waren dreizehn Nachrichten gespeichert – eine schlimmer als die andere. Sie stammten von ihrem Supervisor, seinem Vorgesetzten und nicht zuletzt von ihrem Chef José Juarez, dem Leiter des Clandestine Service. Er gab ihr in deutlichen Worten zu verstehen, dass sie am Montag, sieben Uhr früh, im Büro von Direktor Kennedy zu erscheinen habe und dass andernfalls ihre Zeit bei der CIA endgültig abgelaufen sei.
Brooks fand vor allem die Andeutung, dass ihre »Zeit endgültig abgelaufen« sei, ziemlich beunruhigend. Interessanterweise hatte Rapp das alles jedoch vorhergesagt – sogar, dass sie um sieben Uhr bei der Direktorin würde erscheinen müssen. Das alles ging ihr durch den Kopf, als José Juarez das Empfangsbüro betrat.
Juarez war über einen Meter achtzig groß und hatte dichtes schwarzes Haar und einen buschigen schwarzen Schnurrbart. Seine Eltern waren aus Honduras in die USA eingewandert, als José neun Jahre alt war. Er besuchte die Highschool in Miami und schloss sich dann dem Marine Corps an. Nachdem er sich vier Jahre außerordentlich bewährt hatte, wurde er in die Officer Candidate School aufgenommen. Kurz nach seiner Ernennung zum Offizier wurde die CIA auf ihn aufmerksam und lieh ihn Mitte der Achtzigerjahre für einen kleinen Konflikt in Mittelamerika aus. Juarez erledigte seine Aufgabe so gut, dass ihm die CIA eine Dauerstellung anbot.
Brooks hatte nie in den Streitkräften gedient, doch sie sprang unwillkürlich auf, als sie ihren Boss hereinkommen sah. Juarez hatte sich bereits das Jackett ausgezogen, der oberste Knopf an seinem weißen Hemd war offen, und die Ärmel waren hochgekrempelt. Er schritt direkt auf Brooks zu und blieb einen halben Meter vor ihr stehen, die dichten schwarzen Augenbrauen drohend zusammengezogen.
»Was haben Sie für ein Problem, verdammt noch mal?«
»Es tut mir leid, Sir, ich …«
»Es interessiert mich nicht, ob es Ihnen leidtut. Ich habe Sie gefragt, was Sie für ein Problem haben.«
»Sir, wenn ich es erklären darf. Rapp hat mir gesagt …«
»Ist Mitch Rapp Ihr Boss?«, brüllte Juarez.
»Nein.«
»Das meine ich auch. Und jetzt setzen Sie sich hin und warten Sie, bis die Direktorin Sie rufen lässt. Ich werde ihr jedenfalls raten, Sie zu feuern und Ihnen das FBI auf den Hals zu hetzen.« Juarez drehte sich um, ging zum Empfangstisch und streckte die Hand aus. »Sheila, Block und Kugelschreiber, bitte.« Nachdem ihm die Empfangssekretärin das Gewünschte gegeben hatte, kam er zu Brooks zurück. »Hier, damit Sie Ihren Lebenslauf auf den neuesten Stand bringen können.« Er ließ Block und Kugelschreiber in ihren Schoß fallen und trat in Kennedys Büro ein.
Brooks blickte auf den gelben Notizblock hinunter und dann zu den beiden Wächtern auf, die immer noch mit steinernen Mienen dasaßen. Die Sekretärin, die sie bisher keines Blickes gewürdigt hatte, nahm ihre Präsenz schließlich zur Kenntnis und sagte: »Dieser Mitch Rapp ist ein richtiger Charmeur, nicht wahr?«
Brooks sah die Frau an. Sie war um die fünfzig. Ein bisschen übertrieben zurechtgemacht – eine Spur zu stark geschminkt und das Haar ein wenig zu rot.
»Wie bitte?«
»Waren Sie nicht einen Monat mit ihm in Europa?«
»Das war nicht gerade ein Urlaub.«
»Kann ich mir vorstellen«, sagte die Frau lächelnd.
Brooks blickte auf den Notizblock hinunter und dachte daran, wie ernst ihre Lage mittlerweile war und wie wenig das alles mit den amourösen Fantasien der älteren Frau zu tun hatte. So wie sich die Sache entwickelte, hatte Brooks nur noch wenig Hoffnung, das Ganze unbeschadet überstehen zu können. Rapp würde nichts passieren – er war schließlich Mitch Rapp. Er hatte eine ganze
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