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Der verschlossene Gedanke

Der verschlossene Gedanke

Titel: Der verschlossene Gedanke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Salchow
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„Im Grunde nie.“
    Er versteht es im ersten Moment als Aufforderung, sich zu erheben.
    „ Früher“, fährt sie fort, „hat mich Lilli manchmal hierher begleitet.“ Ein weiterer Griff in die Tüte. „Meine Lilli. Wo sie jetzt nur steckt? Seit Monaten hat sie mich nicht besucht. Seit sie in diese andere Gegend gezogen ist, ist sie nicht mehr zum Tee vorbeigekommen.“
    Ein besonders aufdringlicher Erpel rückt bis auf einen knappen Meter heran. „Weißt du, wo sie steckt, meine Lilli?“, fragt sie das Tier und wirft ihm lächelnd ein paar Krumen zu.
    „ Lilli?“, entfährt es Oskar schließlich.
    „ Meine Enkelin“, antwortet sie. „Sie war oft bei mir, wissen Sie. Vor allem, nachdem Rosalie gestorben war. Die arme Rosalie. Hätte sie nur besser aufgepasst, dann hätte sie sehr viel länger unter uns weilen können.“
    Rosalie. Sicher Lilianas Mutter. Er möchte nicht fragen. Im Grunde möchte er es nicht einmal wissen. Vielmehr irritiert ihn die Tatsache, dass es anscheinend doch noch eine Verwandte gibt. Ihre Großmutter, scheinbar zurückgezogen in eine eigene kleine Welt, bemüht, sich mit Besuchen am See von ihrer Einsamkeit abzulenken.
    „ Wann haben Sie Lilli das letzte Mal gesehen?“, fragt er.
    „ Ich weiß nicht“, antwortet sie. „Lilli ist immer und überall, aber selten bei mir. Viele schlechte Leute, mit denen sie sich abgegeben hat. Glauben Sie mir.“
    „ Schlechte Leute?“
    „ Leute, die ihr nicht gut tun, meiner Lilli. Sie hat Freunde gesucht, wissen Sie. Das kann man ja auch verstehen. Ich meine, das arme Kind hat ihren Vater so früh verloren, dann auch noch mit Zwanzig ihre Mutter. Wie soll man da mit den Beinen fest im Leben stehen bleiben? Rosalie hat damals alles versucht, war immer für sie da. Und als Rosalie von uns ging, habe ich mein Bestes getan. Mein Allerbestes. Aber was soll man machen, wenn sie ihres Weges geht?“
    „ Was soll man machen“, antwortet er leise und schiebt die Hände in seine Jackentaschen.
    „ Es hätte alles so leicht sein können für sie. Der Günter, der den Obstladen in unserem Dorf hat, wollte sie als Verkäuferin einstellen. Es war schon alles geklärt.“ Sie legt die Hände in den Schoß. „Aber Lilli wollte immer in die Stadt. Weg vom Land. Weg von mir.“
    „ Ich glaube nicht, dass sie weg von ihnen wollte.“ Er legt die Hand auf ihre Schulter. „Es ging ihr sicher nur darum, mehr von der Welt zu sehen. Gerade wenn man jung ist, denkt man doch, es stünden einem alle Türen offen.“
    Zum ersten Mal erwidert sie seinen Blick. Ein flüchtiges Lächeln huscht über ihre Lippen. „Das haben Sie nett gesagt, junger Mann.“
    Er nickt.
    „ Was sie jetzt wohl macht?“
    „ Ich bin mir sicher, dass es ihr gut geht“, antwortet er. Er erwischt sich bei der Hoffnung, dass die Frau das Zeitliche segnen wird, bevor sie von Lilianas Tod erfährt. Keine Großmutter sollte ihre Enkelin überleben.
    „ Ich hoffe nur, dass sie keinen Unsinn macht. Wie mit diesem Volker, der sie mal bei mir abgeholt hat.“
    „ Volker?“
    „ Ja, ein furchtbarer Junge. Rabenschwarze Haare, die länger waren als Lillis. So was gehört sich einfach nicht. Ein Mann mit langen Haaren! Wir sind doch nicht im Zirkus. Auf dem Motorrad hat er sie abgeholt. Und dann dieses riesige Bild auf seinem Unterarm. Abstoßend, einfach nur abstoßend.“
    „ Und jetzt? Hat sie noch immer etwas mit ihm zu tun?“
    „ Nein, nein. Der kam nach einer Weile nicht mehr und sie hat auch nicht mehr von ihm gesprochen. Gott sei Dank. Ich hoffe, dass er inzwischen ein anderes Mädchen gefunden hat, das er auf dieser fürchterlichen Donnermaschine umherfahren kann.“
    Sie knüllt eine der Papiertüten zusammen, wirft sie in den Metalleimer neben der Bank und zieht eine neue Tüte aus dem Jutebeutel.
    „ Sie war ein liebes Mädchen, meine Lilli“, sagt sie. „Damals, als sie noch zur Schule ging, meine ich. Jeder hat sie gemocht. Und wenn sie nachmittags nach Hause kam, hat sie Rosalie und mir etwas vorgelesen. Huckleberry Finn war ihr Lieblingsbuch. Sie konnte es beinahe auswendig. Seite für Seite. Ach, was war sie für ein kluges Mädchen.“
    Oskar greift in die Tüte auf der Bank und wirft den Enten ein paar Krumen zu.
    „ Aber beim Lesen ist es nicht geblieben?“, fragt er.
    „ Nein. Lilli fing an, sich immer mehr anzumalen. Wie ein Tuschkasten sah sie manchmal aus. In die Disco wollte sie. Jedes Wochenende, manchmal sogar in der Woche. So was hat es bei uns damals

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