Der Wachsmann
Das Stadtgebiet war noch im vorigen Jahrhundert beinahe sechsfach erweitert und seither in unermüdlicher Arbeit mit einem starken Mauerring und wehrhaften Türmen umgeben worden. Es stimmte, daß zur Isar hin in diesem zweiten Ring noch eine Lücke klaffte. Aber dadurch blieb nur der vorgeschobenste Teil des sogenannten Grieß ungeschützt. Durch Mauer und Tor am Kaltenbach war die Stadt auch nach Osten hin sehr wohl zu sperren. Und die Wehrhaftigkeit hatte sich 1315 schon erwiesen, als Ludwig in den Wirren nach seiner Wahl die Stadt in Verteidigungsbereitschaft hatte setzen lassen. Kein Österreicher hatte damals an die Tore Münchens geklopft, und seine Bürger vertrauten auch jetzt darauf. Dennoch bestand ein ungeheurer Holzbedarf, und nicht nur, weil die meisten Häuser noch aus Holz gebaut wurden, sondern in Anbetracht eines möglichen Krieges vor allem für die Ausbesserung und Vervollständigung der Wehrgänge, als Brennholz, um Pech und heißes Wasser am Sieden zu halten, und die Essen der Waffenschmiede verschlangen Unmengen von Holzkohle.
Jetzt meldete auch der zurückhaltende Ulrich Hiltpurger seine Zweifel an: »Angenommen, ihr hättet recht und die Habsburger und Rudolf täten sich zusammen zu dem verrückten Plan, warum sperren sie dann nicht einfach die ganze Isar? Ich hab’ auch nichts davon gehört, daß man die Rot-Weißen an Isar und Loisach gesichtet hätte.«
»Aber fällt euch denn nicht auf, daß es meistens Flöße vom Pütrich waren, die plötzlich verschwunden sind?« fragte Paul nun mit der ganzen Abgeklärtheit und Erfahrung seiner Jahre. »Ich sag’ euch, dieser Sippschaft klebt ein unseliger Fluch am Wappen, wie dem Schuster das Pech unter den Füßen. Und das schon vor des Jakobs Verwünschung!«
Die Flößer lachten zwar über Pauls launigen Vergleich, aber damit hatte er zugleich schlagartig das Gespräch wieder auf Jakob und seine Peiniger gerichtet. Nun geriet Pütrich in einen Hagel wüster Beschimpfungen.
»Ich möcht’ ja nicht in seiner Haut stecken«, unkte Mathes, »so wie der Jakob den verflucht hat. Jede Stunde muß er nun Angst haben, es könnt’ ihn ein Unglück und die Strafe des Herrn treffen. Ihr werdet seh’n, dem noblen Herrn passiert bald was.«
Peter hatte die ganze Zeit nachgedacht, und fragte jetzt ganz plötzlich: »Hat jemand von euch einmal bemerkt, daß der Jakob – abgesehen vom Peitinger – irgendwelche Feinde hatte?«
Ein vielstimmiges Nein war die erwartete Antwort.
»Eben!«
Darauf glotzte ihn eine Herde Schafe mit offenen Mäulern an, als hätte er verkündet, die Erde sei eine Kugel und trage im Süden einen vierten Kontinent mit Antipoden, wo doch der heilige Augustinus versicherte, die Söhne Noahs hätten nur Europa, Asien und Afrika in Besitz genommen.
»Überlegt doch! Wenn der Jakob keine Feinde hatte, wer wollte ihm dann so etwas antun? Ich bin aber überzeugt, daß den Pütrich eine Menge Leute zum Teufel wünschen. Also könnte es doch sein, daß der Anschlag eigentlich ihm beziehungsweise seinem Eigentum galt und daß Jakob nur das bedauerliche Opfer einer geplanten Missetat gegen den Pütrich wurde.«
Peters hochfliegende Überlegungen trugen eher zu weiterer Verwirrung bei, so als hätte er trotzig auch noch behauptet, die Erde kreise wie eine Kugel an unsichtbarem Faden um das Sonnengestirn.
Da platzte Michl, der sich wie die meisten plötzlich um ein liebgewordenes Feindbild betrogen sah, heraus: »Verzeiht, verehrter Herr Barth« – schon die gespreizte Anrede drückte seine geballte Verachtung aus –, »wollt Ihr etwa den Schurken noch in Schutz nehmen, der dem Jakob das alles eingebrockt hat? Entweder bin ich verrückt oder Ihr seid’s!«
»Aber, ich…« Peter hörte seine eigene Stimme nicht mehr in dem Sturm der Entrüstung, der nun von allen Seiten über ihn hereinbrach.
»Und überhaupt«, schrie der Leonhart am lautesten, »überhaupt ist doch der Peitinger am meisten schuld! Wenn dieser Mistkerl nicht den Jakob angeschwärzt hätte, dann war ihm vielleicht gar nichts passiert. Dem Sauhund sollt’ einer die Zähne einschlagen, daß er sein Schandmaul nicht mehr gebrauchen kann!« Er schüttelte drohend die mächtige Faust und reckte sie unter der jubelnden Zustimmung seiner Gefährten schon wie ein Siegeszeichen empor.
Konrad Peitinger hatte sich während der letzten Tage nicht blicken lassen und vorgegeben, daß er heftig an Fieber und Magenpein leide. Er wußte um den Sturm, den er entfacht hatte, und
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