Der Waechter
helfen, Kathrin?» »Es war die Verkäuferin des Schuhgeschäfts.
« Meiner Freundin ist schlecht. Sie ist käsweiß im Gesicht. »
« Ich bring ihr ein Glas Wasser », sagte die Frau und verschwand wieder in ihrem Laden.
Kathrin setzte sich neben Jenny auf den Blumenkübelrand und legte den Arm um sie. Kurz darauf hielt Jenny das Wasserglas in der Hand und goss den Inhalt in den Rachen, als habe sie den ganzen Tag noch keinen Schluck zu trinken bekommen. Tatsächlich ging es ihr danach besser. « Das war bestimmt der Kreislauf. In eurem Alter ist mir das ständig passiert », wusste die Schuhverkäuferin. « Ich hab dann immer vorher ein Flimmern vor den Augen bekommen und Farben gesehen, bis mir schwarz vor Augen wurde. »
Sind Sie auch zehn Jahre in die Vergangenheit zurückgereist?
Das, was Jenny gerade passiert war, war nicht normal. Es hatte rein gar nichts von einem pubertären Kreislaufkollaps gehabt. Aber vielleicht von einer Halluzination?
Ja! Es muss eine Halluzination gewesen sein!
Eine Fehlfunktion in ihrem Kopf hatte Erinnerungen mit ihren realen Empfindungen vermischt. Lebensmittelvergiftungen konnten auch zu Halluzinationen führen, glaubte Jenny zu wissen. Was hatte sie noch gleich gegessen?
« Geht’s wieder? », fragte Kathrin.
« Ja. » Jenny lächelte sie dankbar an.
Sie hatte wirklich Glück, dass in diesem Moment eine Freundin für sie da war. Wie gern hätte sie ihr davon erzählt. Aber womöglich würde sie Jenny nur für verrückt halten. Oder Angst bekommen. Jenny beschloss, niemandem davon zu erzählen.
An Handballtraining war nicht mehr zu denken. Nach einer detaillierten Kosten-Nutzen Analyse kaufte Jenny sich eine Tafel Schokolade anstatt einer Laugenbrezel und aß sie zur Hälfte auf. Langsam fühlte sie sich besser.
5. Kapitel
Jennys Mutter entging nicht, dass ihre Tochter etwas bedrückte. Nachdem sie nicht locker lassen wollte, erzählte Jenny ihr von ihren zunehmenden Wahrnehmungsstörungen, Kopfschmerzen und selbst die Halluzinationen, die ebenso ein Blackout gewesen sein konnten, erwähnte sie als vage Umschreibung eines kurzzeitigen Filmrisses.
« Um Himmels willen, Kind! Das ist doch nicht normal! Du musst zum Arzt! Sofort! » Jennys Mutter riss sie in die Arme und drückte sie an sich.
Jenny war nie wirklich sicher, wie ihre Mutter reagieren würde. Einerseits machte sie die Kinder für ihre fehlende, persönliche Freiheit, ihre ständige Finanznot und auch für das Scheitern so mancher Beziehung, verantwortlich. Andererseits warf sie sich auch schützend, wie eine Löwenmutter, vor sie. Vor allem wenn sie krank wurden.
Das Gute an Jennys Geständnis war, dass sie sich nun nicht mehr um ein ärztliches Diagnoseverfahren herum drücken konnte. Das Schlechte daran war, dass sie am Ende genauso schlau war wie vorher. Nach den Besuchen bei verschiedenen Fachärzten der Neurologie, Neuroonkologie, Neurochirurgie und letztendlich auch der Psychiatrie, die eine Vorliebe für stundenlange Psychotests hatten; sowie unzählige EEGs, EKGs, MRTs, CTs und anderen durch Abkürzungen betitelten Untersuchungen später, wurde Jenny mitgeteilt, dass sie kein Meningeom, kein Gliom, glücklicherweise vor allem kein Glioblastom, keine Hirnmetastase, keine Gehirnzyste und auch sonst keine sichtbaren Läsionen im Gehirn habe. Ihr IQ läge absolut im Durchschnitt, ihre Wahrnehmung erfülle alle Anforderungen eines gesunden Jugendlichen und für ihr Alter sei sie ausgesprochen tiefsinnig und mitfühlend. Jennys Jubel hielt sich in Grenzen.
« Nachdem ich jetzt weiß, was ich nicht habe, würde ich zu gerne wissen, was ich habe », war alles war ihr dazu einfiel.
Der Neurologe wippte mit seinem Stuhl und sah sie fragend an. So als habe er mit dem, was sie nicht hatte, auch gleichzeitig beantwortet, was sie hatte. Nervös räusperte er sich und rückte mit dem Stuhl näher an seinen Tisch. Dann nahm er verlegen Jennys Patientenakte und blätterte ziellos durch die Papierflut ihrer Befunde.
« Äh. Migräne? », sagte er und klang dabei, als frage er sich das selbst.
Kurz darauf war Jenny um ein Rezept für ihre Kopfschmerztabletten und einem Wulst an Erfahrungen reicher. Ihre Mutter aber beschäftigte sich noch tagelang damit, all diese Ärzte mit Telefonterror zu strafen und ihnen ihre Unzulänglichkeit vorzuwerfen, denn Jenny ging es weiterhin schlecht. Das Schlimmste aber war: Sie fühlte sich leer. So als ginge ihr mit jedem Anfall ein Stück Lebensenergie verloren. Nach den
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