Der Winterpalast
wurde, stimmte die Kaiserin nicht milder. Ein Lächeln war genauso verdächtig wie Tränen.
»Wir mögen die Menschen nicht, denen wir etwas Schlimmes angetan haben, ist es nicht so, Warwara Nikolajewna?«, bemerkte der Kanzler.
Ich möchte alles wissen, so unbedeutend es dir auch erscheinen mag , hatte Katharina gesagt.
Also berichtete ich ihr alles, was ich sah. Flachen Atem, geschwollene Hände, die Kaiserin, die schreiend aus einem Alb
traum erwachte und voller Schrecken eine Ikone umklammerte. Wieder ein Aderlass, vom Arzt stirnrunzelnd verordnet. Elisabeths dickes, dunkles Blut. Schmerzen im Bauch, keine eng taillierten Kleider mehr. Sie wurde ohnmächtig, hatte Krämpfe.
Ich erzählte, dass die Kaiserin oft lange Zeit in der Kapelle kniete, murmelnd ihre Sünden bekannte, mit Gott feilschte. Als einmal in der Nacht ein Käuzchen schrie, ließ sie es mit Musketenschüssen vertreiben. Alle Vögel mussten verscheucht werden, wenn sie auch nur den Fenstersimsen nahekamen. Ein kranker Diener wurde nach Hause geschickt, und man sprach nie mehr von ihm.
Niemand im Winterpalast wagte das Wort Tod auszusprechen.
»Was genau hat er gesagt, Warenka?«, fragte Katharina, wenn ich auf Bestuschew zu sprechen kam. »Wort für Wort.«
Der Krieg ist unvermeidlich.
Im Krieg sind Raub und Betrug und Grausamkeiten an der Tagesordnung; außergewöhnliche Umstände erfordern eben außergewöhnliche Maßnahmen.
Ein Vernichtungsschlag ist immer besser als ein langer Zermürbungskrieg.
Kluge Politik kann sich nicht darauf beschränken, immer nur zu reagieren. Aber wer agieren will, braucht klare Zielvorstellungen.
Jeder weiß, dass der Großfürst den König von Preußen bewundert. Aber gehen die Sympathien seiner Frau in dieselbe Richtung?
Sagen Sie der Großfürstin, ich würde ihr gerne mit meinem Rat zur Seite stehen. Reden Sie ihr zu, mir zu vertrauen, den Gedanken zuzulassen, dass ich ihr Freund sein könnte.
»Soll ich ihm trauen, Warenka?«
Manche Gedanken sind wie Schatten, grau in grau und zugleich allgegenwärtig huschen sie über die Wände, tauchen immer wieder auf, wo man sie nicht vermutet. Sie werden nie so deutlich, dass sie unmittelbar zu Entscheidungen führen, und doch erwachsen aus ihnen mitunter Entscheidungen.
Ich fasste nicht den bewussten Entschluss, Bestuschew zu verraten und zu versuchen, ihn in seinem eigenen Spiel zu schlagen.
Ich dachte nur immer daran, mit welchem Hass er gegen Katharina intrigiert hatte. Er hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit sie aus dem Land gejagt würde, diese Tochter eines kleinen deutschen Krautjunkers. Glaubt er wirklich, das sei alles vergeben und vergessen?
Ich erzählte Katharina von den Dossiers, die Bestuschew angelegt hatte, Aufzeichnungen, in denen er festhielt, wer in seinen Augen eine widerliche Kröte war, wer sich wie ein ordinärer Bauer benahm, wer hinterhältig und aalglatt war. Wer auf der Suche nach einem mächtigen Gönner, nach fetten Pfründen oder auch nur einer guten Partie war. Wer wie viel Einkommen aus seinen Landgütern bezog und wer aus Furcht vor seinen Gläubigern sein Haus nur noch durch die Hintertür verließ. Wer ein Feind des Großfürsten war und wer im Stillen den Sturz der Schuwalows herbeisehnte.
Seine Generalstabskarte der Wünsche und Begierden , nannte er diese Sammlung einmal, gezeichnet auf Menschenhaut.
»Er wird treu an Ihrer Seite stehen, solange es in seinem Interesse ist«, sagte ich. »Er wird Sie verraten, sobald sich anderswo bessere Möglichkeiten ergeben.«
Katharina setzte sich an ihren Schreibtisch, den sie aus Oranienbaum nach Sankt Petersburg hatte bringen lassen, nahm einen Bogen Papier aus einer Schublade und strich ihn mit dem Ärmel glatt. »Ich muss mir alles immer zuerst aufschreiben, damit ich weiß, was ich denke«, hatte sie einmal zu mir gesagt.
An ihrem Zeigefinger war ein schwarzer Tintenfleck. Sie bemerkte ihn, leckte darüber und rieb ihn mit dem Daumen.
»Richte dem Kanzler aus, ich denke darüber nach, Warenka. Gib ihm zu verstehen, dass ich handfeste Zeichen seiner Loyalität sehen will. Er muss zuerst beweisen, dass er es ernst meint.«
Als die Eisflächen auf dem Ladogasee aufbrachen und gewaltige Eisschollen unter großem Getöse die Newa hinabtrieben, begann endlich der Umbau des Winterpalasts. Zuerst wurden nur einige Teile des Gebäudekomplexes, die weitab von der kaiserlichen Suite lagen, geräumt und abgesperrt. Überall standen mit Stroh und Sackleinwand
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