Der Wolkenpavillon
vergewaltigt!« Chiyos Stimme bebte. »Und nun behauptet Ihr, Ihr hättet mich noch nie gesehen?«
Ogita musterte sie aus schmalen Augen. Plötzlich schien er sich zu erinnern. »Oh ja, natürlich!« Ein lüsternes Grinsen zog über sein Gesicht. »Es ist mir ein Vergnügen, Euch wiederzusehen, aber ich habe es eilig. Wenn Ihr mir jetzt bitte Platz machen würdet ...?«
»Das werde ich nicht tun!« Chiyo war so blass geworden, dass Reiko befürchtete, sie würde in Ohnmacht fallen, doch sie wich nicht von der Stelle. »Vielleicht lasse ich Euch durch, wenn ich weiß, warum Ihr das getan habt. Sagt es mir!«
»Schluss mit diesem Unsinn.« Ogita hob die Hand, um Chiyo wegzustoßen.
Chiyo riss Reiko den Dolch aus der Hand, richtete die Klinge auf Ogita und rief: »Rührt mich nicht an!«
Reiko konnte kaum glauben, was sie sah. Sie hätte nie gedacht, dass Chiyo den Mut haben würde, sich ihrem Vergewaltiger in den Weg zu stellen, geschweige denn ihn zu bedrohen. Doch sie stammte aus demselben Klan wie Sano. Auch in ihren Adern strömte das Blut von Samurai.
Ogita wich einen Schritt zurück. Sein Blick zuckte zwischen Chiyos angespanntem weißem Gesicht und dem Dolch hin und her. »Also gut«, sagte er schließlich. »Wenn Ihr es unbedingt wissen wollt. Ja, ich habe es getan. Und ich habe es getan, weil ich es wollte und weil ich es konnte.« Er grinste, als er Chiyos schockierte Miene sah. »Seid Ihr jetzt zufrieden?«
In Chiyos sonst so sanftmütigem Gesicht loderte eine solche Wut auf, dass Reiko sie kaum wiedererkannte. Ihre Lippen bewegten sich, aber sie brachte kein Wort hervor.
»Nein?« Ogita lächelte spöttisch. »Vielleicht hat Euch das eine Mal nicht gereicht. Wenn Ihr es noch einmal tun wollt, stehe ich Euch gern zu Diensten.«
Reiko schnappte nach Luft vor Empörung, während Chiyo zurückzuckte, als hätte Ogita sie geschlagen. »Wegen Euch habe ich alles verloren, was mir lieb ist!«, stieß sie hervor, und der Dolch zitterte in ihrer Hand. »Meine Kinder, meinen Mann, meine Ehre.« Tränen schimmerten in ihren Augen. »Und Ihr macht Euch darüber lustig.«
»Es tut mir leid, dass Ihr Euch so erregt«, sagte Ogita herablassend. »Aber das ist Schnee von gestern. Ich finde, wir sollten die Sache vergessen, was meint Ihr?« Er hielt ihr die Hand hin und wackelte mit den Fingern. »Und jetzt gebt mir den Dolch.«
Chiyo zögerte. Reiko sah, dass sie einen inneren Kampf ausfocht. Sie war es gewöhnt, Männern zu gehorchen, und dies schwächte nun ihren Widerstand gegen Ogita. Sie holte tief Atem, so als stünde sie auf einer Klippe über dem Meer und wollte ihre Lungen füllen, bevor sie ins Wasser sprang. Dann, unvermittelt, schlug sie Ogita mit aller Kraft ins Gesicht. Die Wucht des Hiebes warf ihn nach hinten, und er machte eine ungeschickte Drehung, während Chiyo, vom eigenen Schwung mitgerissen, nach vorn taumelte.
Ogita kicherte, teils aus Erheiterung, teils vor Schreck. »Du magst es wohl auf die harte Tour«, höhnte er. »Normalerweise mag ich es, wenn eine Frau sich wehrt, aber leider muss ich jetzt weiter.«
Er drängte sich an Chiyo vorbei in Richtung des Tores. Mit taumelnden Schritten folgte sie ihm, wobei sie unbeholfen den Dolch schwang. Wahrscheinlich hatte sie noch nie eine Waffe benutzt. Doch zu Reikos Erstaunen machte Chiyos Entschlossenheit ihren Mangel an Erfahrung wett. Sie jagte Ogita direkt in das Kampfgetümmel und legte dabei die Todesverachtung eines Kriegers an den Tag, der auf ein Selbstmordkommando geschickt worden war. Die Schwerter und Speere der kämpfenden Männer, die sie oft nur um Haaresbreite verfehlten, schien sie gar nicht zu bemerken. Ihr brennendes Verlangen, sich an Ogita zu rächen, schien sie geradewegs in den Tod zu führen. Aber vielleicht wollte sie sterben. Vielleicht wollte sie den Tod genauso sehr wie die Rache.
Ogita versuchte, sich seitlich an den kämpfenden Männern vorbeizudrängen, wobei er Chiyo, die ihm unerbittlich folgte, stets im Auge behielt. Reiko zog einem toten Samurai das Schwert aus der Hand und folgte den beiden. Sie sah, wie Ogita über einen blutüberströmten Körper stolperte - Nanbus Leiche. Verzweifelt versuchte er, sich auf den Beinen zu halten, doch der Boden war so glitschig von Blut, dass er ausrutschte und stürzte.
Chiyo näherte sich ihm, den Dolch gezückt. Die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war, ließ Reiko schaudern. Chiyos Gesicht war so unbewegt wie das eines steinernen Buddha. Ogita warf einen Blick
Weitere Kostenlose Bücher