Der Wolkenpavillon
über die Schulter auf seine Verfolgerin, während er sich aufzurappeln versuchte. Das ganze Grauen, das er im Wolkenpavillon über Chiyo gebracht hatte, spiegelte sich nun in seinen Augen. Er öffnete den Mund, wollte um Gnade flehen ...
Chiyo ließ den Dolch herabsausen. Die Klinge grub sich in Ogitas Rücken und hinterließ eine lange, klaffende Wunde. Er stieß einen kläglichen Schrei aus. Sein Körper versteifte sich und erschlaffte jäh, als er starb und auf die blutige Leiche Nanbus sank, seinen Mitverschwörer bei schändlichen Verbrechen.
Chiyo erwachte wie aus einer Trance. Ihre unnatürliche, steinerne Miene wurde weich. Sie sank neben Ogita und Nanbu auf die Knie und begann zu schluchzen. Reiko wollte zu ihr, um sie zu trösten, doch Fumiko war schneller, sie war als Erste bei Chiyo und schloss sie in die Arme.
»Nicht weinen«, sagte das Mädchen. »Es waren böse Männer. Sie haben es nicht anders verdient.«
Erst jetzt sah Reiko, dass die Schlacht vorüber war. Nanbus Männer und die Hunde lagen leblos zwischen den Gräbern. Nur Jirocho, ungefähr die Hälfte seiner Leute sowie Leutnant Tanuma und Reikos Begleitsoldaten hatten das Gemetzel überlebt, erschöpft, zerschunden und blutig. Im rot leuchtenden Rauch, der aus dem Krematorium drang, und im flackernden Licht der Laternen, die zu Boden gefallen waren, sahen sie aus wie die Überlebenden einer apokalyptischen Katastrophe.
Chiyo weinte so hemmungslos, als würde der ganze aufgestaute Schmerz, die ganze Trauer und der ganze Zorn aus ihr herausbrechen. Reiko spürte, wie Tränen der Erleichterung ihr in die Augen stiegen. Jirocho löste sich von seinen Männern, trat auf Fumiko zu und legte ihr sanft die Hand aufs Haar. Er schluckte schwer und blinzelte.
»Nicht weinen«, sagte Fumiko, wobei sie selbst in Tränen ausbrach. »Alles ist gut.«
*
»Was soll ich gehört haben?«, fragte Joju ungeduldig und furchte die Stirn, wobei er der alten Frau immer noch die Klinge an die Kehle hielt.
»Hier ist jemand«, sagte Sano. »Hier in der Kabine.«
»Unsinn! Hier seid nur Ihr und ich und dieses alte Weib«, erwiderte Joju. »Und Ihr werdet jetzt gehen. Na los!«
Sano blickte sich in der Kabine um und hob die Hand. »Hört Ihr das nicht? Es ist ein Geist ...«
Der Priester verzog verächtlich den Mund. »Macht Euch nicht lächerlich. Auf diesem Gebiet bin ich Fachmann. Ihr seid bloß ein Amateur.«
»Wir alle besitzen die Fähigkeit, mit der Welt der Geister in Verbindung zu treten«, zitierte Sano Jojus eigenen Ausspruch.
»Aber nur wenige wissen, wie man diese Verbindung herstellen kann«, sagte Joju.
»Offenbar gehöre ich jetzt zu diesen wenigen«, entgegnete Sano. »Und ich brauche nicht einmal Feuerwerkskörper und Musik, um den Geist zu hören. Es ist eine Frau ... Sie will mit Euch reden ...«
»Ihr versucht doch nur, Zeit zu schinden.« Joju drückte die Messerklinge fest gegen die blaue Ader, die unter der dünnen Haut am Hals der alten Frau hindurchschimmerte. »Verschwindet endlich!«
»Ich höre einen Namen«, fuhr Sano unbeirrt fort. »Es klingt wie ...« Er hielt inne. Seine Gesichtsmuskeln spannten sich vor Konzentration. »Okitsu.«
»Ich kenne keine Okitsu«, erklärte Joju, blickte jedoch genauso schockiert drein wie der Geldverleiher bei der angeblichen Geisteraustreibung, die Sano miterlebt hatte. Offensichtlich erinnerte Joju sich sehr genau an Okitsu - die Bettlerin, der Sano draußen vor dem Tempel begegnet war.
»Okitsu war einst von bösen Geistern besessen, die ihr eingeflüstert haben, irgendwelche Leute seien hinter ihr her«, fuhr Sano fort. »Ihre Eltern haben sie zu Euch gebracht, und Ihr habt eine Geisteraustreibung an ihr vorgenommen.«
»Woher ...«
»Woher ich das weiß? Sie selbst hat es mir gerade eben erzählt.« Sano legte den Kopf schief und tat so, als würde er lauschen. »Sie sagt, Ihr hättet sie vergewaltigt und geschwängert.«
Joju starrte Sano so entgeistert an wie ein Pilger, dem eine Buddha-Statue in einem einsamen Tempel von düsteren Geheimnissen erzählte, um die nur der Pilger selbst wissen konnte.
Sano vertraute darauf, dass Joju sich nicht die Mühe gemacht hatte, sich nach Okitsus Schicksal zu erkundigen. »Sie ist bei der Geburt des Kindes gestorben«, sagte er.
»Nein«, flüsterte Joju, der offensichtlich keine Ahnung hatte, dass Okitsu vor seinem Tempel ein klägliches Dasein als Bettlerin fristete.
Sano fiel ein weiterer Ausspruch von Joju ein: Die Leute wollen an das
Weitere Kostenlose Bücher