Der Zauber eines fruehen Morgens
sonst nur Reilly, bewies seine aufrichtige Anteilnahme.
»Danke, Sir«, sagte sie und ging.
Draußen fühlte Belle sich völlig benommen. Als Jimmy sich zum Militär gemeldet hatte, hatte sie ständig Angst um ihn gehabt, aber nach seiner Verwundung an der Somme hatte sie sich offenbar seine Überzeugung, dass ihm nichts mehr passieren würde, zu eigen gemacht. Außerdem war er, soweit sie wusste, seit damals nicht mehr an der Front gewesen. Es schien ganz unmöglich zu sein, dass er einen Arm und ein Bein verloren hatte; die Vorstellung war einfach zu grauenhaft.
Wie in Trance wanderte Belle einen Weg zwischen zwei Stationen hinunter bis zum Zaun.
Jimmys Zeit als Soldat war jetzt vorbei, doch so hatte es nicht enden sollen. Wie oft hatten sie nicht beide darüber geschrieben, wie es weitergehen sollte! Da war der rosige Plan gewesen, eine Fremdenpension an der See zu führen, und Jimmy hatte häufig Gegenden in England erwähnt, die er gern einmal besuchen würde – den Lake District, die Norfolk Broads und Devon –, meistens, weil er jemanden von dort kennengelernt hatte.
Nichts davon konnten sie jetzt noch in die Tat umsetzen. Sowie Jimmy reisefähig war, würde man ihn nach England zurückschicken, und sie würde ihn wohl begleiten. Sie konnte sich nicht einmal annähernd vorstellen, wie ihr Leben im Railway Inn in Zukunft aussehen würde. Jimmy würde nie wieder in der Lage sein, Treppen zu steigen, geschweige denn, im Pub zu arbeiten. Sie hatte im Royal Herbert zwar Wunden versorgt, Patienten gewaschen und gefüttert und ihnen Bettpfannen gegeben, aber sie war nie allein für einen Menschen, dem zwei Gliedmaßen fehlten, verantwortlich gewesen.
Sie hatte sich so inständig gewünscht, irgendetwas würde passieren, das ihr bei dem Dilemma half, in dem sie steckte, und ihr die Frage beantwortete, ob sie nach dem Krieg bei Jimmy bleiben oder zu Etienne gehen sollte. Jetzt war das Problem gelöst, da natürlich keine Rede mehr davon sein konnte, Jimmy zu verlassen. Aber wie grausam das Schicksal war – warum musste etwas so Schreckliches passieren? Jimmy hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, um ein so furchtbares Los zu verdienen. Oder war es etwa die Strafe für ihre Untreue?
Schlimm genug, dass sie nach Hause zurückkehren und das Gerede ertragen musste, das über sie im Umlauf war. Sicher hatte Mrs. Forbes-Alton die Zeit genutzt, um weiter ihr Gift zu verspritzen. Neben ihren ungeheuren Schuldgefühlen würde sie auch damit leben müssen, einen Invaliden zu pflegen – mit all den Schwierigkeiten, die diese Situation mit sich brachte.
Doch sie durfte jetzt nicht an sich selbst denken. Jimmy war ihr Ehemann, sie hatte vor Gott geschworen, ihn in guten wie in schlechten Tagen zu lieben. Sie durfte auch nicht vergessen, dass er nie aufgegeben hatte, sie zu suchen, nachdem sie in Seven Dials entführt worden war. Sie musste ihren Ehebruch wiedergutmachen, indem sie zu ihm hielt, ihn liebte und beschützte.
Es fing wieder an zu regnen, und in der Ferne hörte sie das Donnern schwerer Artillerie, eine schaurige Mahnung an das, was Jimmy erlitten hatte. Belles Gedanken wandten sich all den Verwundeten zu, die sie gesehen hatte, mit Schlamm überzogen und in den Augen ein Entsetzen, das sämtliche Gräuel des Krieges widerspiegelte. Sie weinte, weinte um sie alle, vor allem jedoch um Jimmy.
Alle Mädchen in ihrer Baracke waren voller Mitgefühl, als sie irgendwann bis auf die Haut durchnässt zurückkam. Sogar Sallys Augen füllten sich mit Tränen, als Belle erzählte, was passiert war. Aber es war Vera, die die Initiative ergriff, indem sie Belle aus ihrennassen Sachen schälte, ihr ins Nachthemd half und sie fest in die Arme nahm, damit sie sich richtig ausweinen konnte.
»Irgendwann wird es besser werden«, sagte sie tröstend. »Er kann eine Beinprothese bekommen. Ich kenne Leute, die eine haben und recht gut damit zurechtkommen. Du hast gesagt, dass er viel Geduld hat, und das ist sehr wichtig.«
Sally brachte ihr einen Becher Tee und ein Stück Kuchen von daheim. »Mein Großvater hat im Krimkrieg ein Bein verloren«, sagte sie. »Er bekam später ein Holzbein und war damit genauso flott unterwegs wie ich. Außerdem werden jetzt wirklich gute Prothesen hergestellt, und während der Rekonvaleszenz wird Jimmy lernen, auf Krücken zu gehen, und einige andere Fertigkeiten, damit er allein zurechtkommt.«
Belle machte sie nicht darauf aufmerksam, dass Jimmy nur noch einen Arm hatte und deshalb
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