Der Zirkus: Ein Jahr im Innersten der Politik (German Edition)
für diese anderthalb Stunden gleichwertigen Konkurrenten, live im Fernsehen. Ihre üblichen Opponenten sind entweder andere Regierungschefs oder jedenfalls theoretisch innerparteiliche Gegner, mit beiden verhandelt sie hinter verschlossenen Türen. Und in den meisten Auftritten und Interviews des Jahres war sie besonders umsichtig befragt worden, meist hatte sie selber eine sympathische Farbe vorgegeben und aus ihrem häuslichen Alltag oder ihrer wilden Jugend erzählt. Nun lag erstmals seit ganz langer Zeit kein Filter vor der Kamera, was auch ganz wörtlich ein Problem für sie war: Sie sah einfach erschöpft aus. Zum ersten Mal konnten die Zuschauer eine Ahnung davon haben, dass sie durch die lange Dauer im hohen Amt auch charakterlich affiziert war. Sie reagierte, als müsste sie sich das Kopfschütteln mühsam versagen. Mehrmals, etwa beim Thema Syrien, schien sie ehrlich keinen Sinn darin zu erkennen, diese Fragen in dieser Runde zu erörtern. Was würde das denn bringen? Sie kann das doch mit Putin und Obama besprechen, was soll sie sich bei Raab und Co. den Mund fusselig reden?
Steinbrück konnte hingegen recht bald, ohne aggressiv zu wirken und ohne zu dozieren, die vorbereiteten Punkte und Sätze anbringen. Ich rechnete immer damit, dass er gestoppt würde, dass sich die Bundeskanzlerin wieder besinnen und zu ihrer gewohnten Form auflaufen würde, aber das passierte nicht. Recht bald schon hatte Steinbrück seinen Diederik-Samson-Moment und erklärte, dass die Rettung Europas Geld kosten werde. Und am Beispiel der surrealen CSU Forderung nach einer Pkw-Maut für Ausländer zeigte sich der Zwist in ihrer Koalition. Und auch die Liberalen bekamen an jenem Abend eine Spitze ab, als Merkel ihnen maliziös das »allervollste« Vertrauen aussprach und damit den Faden aufnahm, nach dem das vollste Vertrauen der Kanzlerin eigentlich als Vorstufe zur Entlassung gelten kann. So hatte sie gleich nach zwei Seiten ihre Partner verprellt. Sie wirkte genervt und machte taktische Fehler.
Es war ein unerwartetes Schauspiel. So müssen Tierfilmer empfinden, die sehr lange irgendwo ausharren, nichts passiert, und dann bewegt sich plötzlich etwas und ein Tasmanischer Teufel kommt aus dem Unterholz gekrochen. Ebenso selten ist es, einem Kandidatenduell beizuwohnen, bei dem wirklich etwas geschieht. Konnte nach all den Monaten, in denen sich so gar nichts bewegte, tatsächlich an eine auch nur minimale Verschiebung der Kräfteverhältnisses zu denken sein? Andererseits war dies das erste Mal, dass beide ohne Filter vor die Kameras traten. Hier zahlte sich ein Vorteil aus, den Steinbrück als Oppositionskandidat hatte: Er verfügte über wesentlich mehr Zeit zur Vorbereitung, die er genutzt hatte. Zuschauer sahen live, dass er kein Problembär war, der nicht unfallfrei durch zwei Sätze kam. Merkel hingegen kam mit ihren wohldosierten Sätzen nicht weit, musste sich, gerade von Anne Will, penetrante Nachfragen anhören. Sie fand keinen Ton, keinen Draht zu den Zuschauern und aus ihren improvisierten Sätzen nicht heraus. Geprobt hatte diese Situation niemand mit ihr. Wer wollte zu der mächtigsten Frau der Welt auch sagen: es ist Zeit, zu lernen, wie man vor einer Kamera agiert?
Sie kam sichtlich mit der sozialen Situation nicht zurecht. Nach den präzise vorgebrachten Punkten von Steinbrück und den kritischen Einlassungen der Moderatoren suchte sie nach einer höheren Warte, nach einer Möglichkeit, sich über das Getümmel zu erheben: »Wir sollten nicht immer alles in den düstersten Farben malen!« Es klang hier aber nicht nach der professionellen Distanz einer erfahrenen Therapeutin, sondern nach einer betulichen Realitätsverweigerung wie aus einer alten Illustrierten: Kinder, wo bleibt denn das Positive? Und der ungünstige Eindruck wurde noch dadurch verschärft, dass ihre Miene sorgenvoll wirkte, ihre Gestik fahrig, die ganze Frau ein einziges Fragezeichen. Sie bewies keinen Mut, sondern wich auch bei der Frage nach der Aufklärung des NSA -Datenskandals, einem klaren Bruch deutscher Grundrechte, aus und scheute sich, ein klares Wort zu Edward Snowden zu sagen. Sie murmelte etwas, es habe ja wohl Möglichkeiten gegeben, sich an andere Stellen zu wenden, statt an den »Guardian« – eine abstruse Vorstellung. Als hätte die NSA eine Art Ombudsmann für Fälle, in denen versehentlich die Mails und Kommunikationen der halben Welt abgehört worden wären. Dabei geht es in diesem Dienst ja genau darum. Es ist die
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