Der Zusammenbruch
...« Sie war im Übermaß ihres tollen Schmerzes auf der durchnäßten Erde mit gefalteten Händen auf die Knie gefallen. Dies Wort Freund, das einzige, das sie fand, drückte all die Zärtlichkeit aus, die sie nun mit diesem guten Menschen verloren hatte, der ihr alles verziehen, sie trotz allem zu seiner Frau machen wollte. Jetzt war ihre ganze Hoffnung zu Ende und sie konnte nicht mehr leben. Nie hatte sie einen andern geliebt, und nie würde sie wieder jemand liebhaben können. Der Regen hatte aufgehört; ein Rabenschwarm, der krächzend über den drei Bäumen kreiste, beunruhigte sie wie eine Drohung. Sollte ihr der liebe Tote, den sie unter so großen Mühen gefunden hatte, wieder genommen werden? Sie hatte sich auf den Knien weitergeschleppt und wehrte nun mit zitternder Hand die gierigen Fliegen ab, die um die beiden weit offenen Augen herumsummten, deren Blick sie noch suchte.
Da entdeckte sie in Honorés zusammengekrallten Fingern ein Stück blutbeflecktes Papier. Das regte sie auf und sieversuchte es mit vorsichtigem Zupfen herauszubekommen. Der Tote wollte es nicht fahrenlassen, er hielt es so fest, daß sie es ihm nur in Stücken hätte entreißen können. Das war der Brief, den sie ihm geschrieben hatte, den er zwischen Hemd und Haut aufbewahrte und den er nun als Lebewohl in der letzten Zuckung seines Todeskampfes an sich gepreßt hatte. Sie fühlte sich bei all ihrem Schmerz von einer tiefen Freude durchdrungen, als sie ihn erkannte, und war ganz überwältigt davon, daß er mit dem Gedanken an sie gestorben sei. Ach, gewiß! Sie wollte ihm den lieben Brief lassen, sie wollte ihn ihm nicht nehmen, wenn er ihn so unbedingt mit in die Erde nehmen wollte. Ein neuer Tränenstrom verschaffte ihr Linderung, warme, sanfte Tränen nun. Sie stand wieder auf und küßte seine Hände, sie küßte ihm die Stirn und wiederholte dabei beständig das so unendlich liebkosende Wort:
»Mein Freund ... mein Freund ...«
Die Sonne neigte sich indessen, und Prosper holte bis Bettdecke hervor. Zusammen hoben sie nun mit frommer Behutsamkeit Honorés Körper auf und legten ihn auf die auf die Erde gebreitete Decke; und als sie ihn eingehüllt hatten, trugen sie ihn auf den Karren. Der Regen drohte wieder loszubrechen, und sie setzten sich mit ihrem Esel in Bewegung, ein kleines Leichengefolge, über die verruchte Ebene, als sich ein entferntes Donnerrollen hören ließ.
Wieder rief Prosper:
»Die Pferde! Die Pferde!«
Es war abermals eine Jagd frei umherirrender, verhungerter Pferde. Diesmal kamen sie in tiefen Massen aus einem weiten, ebenen Stoppelfelde, die Mähnen im Winde, die Nüstern mit Schaum bedeckt; ein schräger Strahl rotenSonnenlichtes warf den Schatten ihres wahnsinnigen Laufes bis ans andere Ende der Ebene. Silvine hatte sich sogleich mit in die Luft ausgebreiteten Armen vor den Karren geworfen, wie um sie durch diese Bewegung wilder Furcht aufzuhalten. Glücklicherweise wendeten sie sich nach links, wohin eine Geländefalte sie ablenkte. Sonst wären sie ganz und gar zerschmettert worden. Die Erde erzitterte, ihre Hufe schleuderten einen Regen von Kieselsteinen umher, einen wahren Kugelhagel, der den Esel am Kopfe verwundete. Dann verschwanden sie auf dem Grunde einer Schlucht.
»Der Hunger bringt sie so ins Rasen,« sagte Prosper. »Arme Viecher!«
Silvine hatte den Esel wieder am Zügel genommen, nachdem sie ihm sein Ohr mit ihrem Taschentuche verbunden hatte. Und der düstere kleine Trauerzug überschritt nun die Ebene im entgegengesetzten Sinne, um die zwei Meilen, die sie von Remilly trennten, zurückzulegen. Bei jedem Schritt blieb Prosper stehen, um nach den toten Pferden zu sehen; sein Herz war ihm schwer, daß er so fortgehen sollte, ohne seinen Zephir wiederzusehen.
Als sie sich jenseits des Garennegehölzes etwas links wandten, um den Weg vom Morgen wieder einzuschlagen, forderte ein preußischer Posten ihren Erlaubnisschein. Aber anstatt sie von Sedan abzulenken, befahl dieser Posten ihnen, durch die Stadt hindurchzugehen, sonst würden sie zur Strafe festgehalten. Sie konnten nichts darauf antworten; das waren wohl neue Befehle. Übrigens wurde dadurch ihr Rückweg um zwei Kilometer abgekürzt, so daß sie sehr glücklich darüber waren, denn sie waren ganz zerbrochen von Müdigkeit.
In Sedan aber wurde ihr Marsch auf ganz eigenartige Weise gehemmt. Nachdem sie durch die Festungswerke hindurchwaren, umhüllte sie Fäulnisgeruch; ein wahrer Misthaufen stieg ihnen bis an die Knie. Die
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