Des Teufels Sanduhr: Roman (German Edition)
eine gefräßige Raupe umherkroch, erreichten sie Gefilde, die Anna äußerst vertraut waren. Eines Morgens konnte sie am Horizont, umschlossen von den sanften Hügeln dieser Landschaft, ihr altes Heimatdorf erblicken. Dort, weit fort von ihnen und dennoch in sichtweite, ging das Leben weiter. Ohne sie, ohne ihren Mann und auch ohne die liebe Mine, und sehr wahrscheinlich wurden sie alle dort von niemandem vermisst.
Eines Abends lagerte ein Teil des Trosses ganz in der Nähe des abgelegenen Hofes, auf dem Anna in den Tagen ihrer Flucht das Hündchen ausgesetzt hatte. Von dem Haus war nicht mehr viel übrig geblieben. Nur noch verkohlte Gerippe zeugten davon, dass hier einmal Hof und stall gestanden hatten. Dennoch ließen sich zahlreiche Wagen an diesem öden und verlassenen Ort nieder, und man machte sich daran, das Nachtlager vorzubereiten.
Am nächsten Tag – es dämmerte bereits – zog Anna dann zusammen mit Liese, Mergel und der verrückten Therese los, um im nahegelegenen Dorf »nach dem Rechten zu sehen«, wie Liese es nannte.
Auch dieses Nest, ein Ort mit nicht mehr als zwanzig seelen, war wie ausgestorben. Zwar standen noch alle Häuser, und auch die kleine Kirche war bisher ganz geblieben, doch weder von Mensch noch von Vieh war auch nur die leiseste spur zu entdecken. Liese machte sich sofort daran, ein Haus nach dem anderen von innen zu inspizieren. Auch wenn bereits Dutzende vor ihr dort gewesen waren, hielt sie das nicht davon ab, ihr Glück zu versuchen, denn nicht grundlos war sie davon überzeugt, dass niemand ein so untrügliches Gespür für Geheimverstecke besaß wie sie. Und tatsächlich: Liese fand selbst in den ausgeräumtesten Kammern immer eine Nische, eine Klappe oder Luke, in der sich die schätze dieser ohnehin meist armen Leute verbargen.
Anna trieb sich derweil recht lustlos auf dem Hof eines grö ßeren Hauses herum, öffnete die Tür des Schuppens und des Schweinestalls, warf einen Blick in den Abort und versuchte somit den Eindruck zu erwecken, dass auch sie sich auf die suche nach Dingen machte, die die Gruppe in irgendeiner Form verwerten konnte. Der Sommer neigte sich bereits dem Ende zu, die Abende waren nicht mehr allzu lang, und es begann schon ein wenig frisch zu werden.
»Er ist hier«, hörte Anna mit einem Mal die stimme der verrückten Therese hinter sich.
»Wer?«, fragte sie erschrocken.
»Er. Ich habe ihn gesehen, er schleicht sich hier herum. Drüben am Kirchhof ist er. Komm mit, dann zeig ich ihn dir.«
»Lieber nicht. Komm, wir gehen zum alten Mergel und sagen ihm besser Bescheid. Wir sollten verschwinden.«
»Ach was. Mir wird er nichts tun. Das weiß ich genau. Ja, ganz genau, ganz genau.« Und Therese begann wieder mit ihrem hysterischen, völlig unangebrachten Gelächter.
»Ich will ihn nicht sehen. Und wieso bist du dir eigentlich so sicher? Ich glaube, du willst mir nur Angst machen«, schrie Anna gegen das kreischende Mädchen an.
»Komm mit, und du wirst sehen, dass ich nicht lüge.«
Es ärgerte Anna, dass sie sich immer wieder von dem Verhalten dieses wunderlichen Geschöpfes verängstigen ließ. Ein derartig von Gott gestraftes Ding wie dieses Mädchen hätte nichts weiter als Mitleid bei ihr hervorrufen dürfen. Doch tatsächlich bemerkte Anna, dass nicht sie die Stärkere von beiden war, sondern dass Therese sie, die gesunde Anna, die alle Sinne beisammenhatte, zu beherrschen schien. Etwas in Anna sträubte sich gegen dieses Gefühl, und deshalb ging sie mit, um dem Treiben ein für alle Mal ein Ende zu setzen und der schielenden Therese zu beweisen, dass sie sich nicht vor ihren gruseligen Visionen fürchtete.
Sie machten sich also auf den Weg zur Kirche, die nur wenige Schritte von dem Hof entfernt war. Forsch und ohne zu zögern ging Therese auf die Kirchentür zu. sie erweckte nicht den Anschein, dass sie eine Heimlichkeit plane. Es wirkte fast so, als sei sie dort drinnen verabredet und müsse sich beeilen, nicht zu spät zu kommen. Offenbar dachte sie nicht darüber nach, dass ein Mörder, der sich hier vielleicht verbarg, die Flucht ergreifen würde – von ihrem lautstarken Erscheinen gewarnt. Zu Gesicht bekommen, da war sich Anna sicher, würden sie bei diesem Vorgehen niemanden. Und im Grunde war ihr genau das das Liebste, denn für eine Begegnung der besonderen Art besaß sie nicht die notwendige Nervenstärke.
In der Kirche war es recht dunkel, alle Kerzen waren ausgeblasen, und nur das ewige Licht verbreitete einen einsamen
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