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Desperation

Desperation

Titel: Desperation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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sagte es im düsteren, geistesabwesenden Tonfall eines Mannes, der mit seinen Gedanken ganz woanders
ist. »Ich hab ihm andauernd gesagt, jemand, der mit dem Motorrad unterwegs ist, sollte eine Brieftasche mit Kette daran
haben.« Der Schatten eines Grinsens huschte über sein Gesicht. »Es dürfte ihm doch nicht so leichtfallen, diese Motelzimmer in Austin zu bekommen, wie er glaubt.«
»Ich hoffe, er muß auf dem verdammten Parkplatz schlafen«, sagte Ralph. »Oder am Straßenrand.«
David hörte sie kaum. Er fühlte sich wie an jenem Tag in
Bear Street Woods - nicht, als Gott mit ihm gesprochen hatte,
sondern als er spürte, daß Gott es vorhatte. Er beugte sich nach
vorne und hob Johnnys Brieftasche auf. Als er sie berührte,
zuckte so etwas wie ein elektrischer Schlag durch seinen Kopf.
Er stieß ein leises, explosionsartiges Grunzen aus. Und sackte
mit der Brieftasche in der Hand gegen die Wand des Wagens. »David?« fragte Ralph. Seine Stimme klang wie aus weiter
Ferne, als würde seine Besorgnis über tausend Meilen
hinweghallen.
David achtete gar nicht auf ihn und klappte die Brieftasche
auf. In einem Fach befand sich Bargeld, im anderen ein Wust
von Papieren
- Notizen, Kreditkarten und so weiter. Beides
ließ er unbeachtet und öffnete einen Schnappverschluß an der
linken Innenseite der Brieftasche; eine Ziehharmonika von
Fotos in Hüllen klappte heraus. Er merkte am Rande, wie sich
die anderen um ihn scharten, als er die Bilder durchblätterte
und sich mit einem Finger rückwärts durch die Jahre hangelte: Da war ein bärtiger Johnny und eine wunderschöne
dunkelhaarige Frau mit hohen Wangenknochen und üppigen
Brüsten; da ein Johnny mit grauem Schnurrbart an der Reling
einer Jacht; da stand ein Johnny mit Pferdeschwanz und krawattenfarbenem Jabbho neben einem Schauspieler, der wie
Paul Newman aussah, bevor Newman daran gedacht hatte,
Chilisauce und Salatdressing zu verkaufen. Jeder Johnny war
etwas jünger, Bart- und Haupthaar dunkler, die Linien in seinem Gesicht weniger tief, bis
»Da«, flüsterte David. »O Gott, da.« Er versuchte, das Foto
aus seiner Klarsichthülle zu nehmen, schaffte es aber nicht;
seine Hände zitterten zu sehr. Steve nahm die Brieftasche, zog
das Bild heraus und gab es dem Jungen. David hielt es sich
mit der staunenden Ehrfurcht eines Astronomen ans Licht,
der gerade einen neuen Planeten entdeckt hat.
»Was ist?« fragte Cynthia und beugte sich zu ihm.
»Es ist der Boß«, sagte Steve. »Er war fast ein Jahr drüben >im Land<, wie er sich immer ausgedrückt hat -, um für ein
Buch zu recherchieren. Ich glaube, er hat auch einige Artikel
für Zeitschriften über den Krieg geschrieben.« Er sah David
an. »Hast du gewußt, daß das Bild da sein würde?«
»Ich wußte, daß etwas da sein würde«, sagte David so leise,
daß die anderen es kaum hören konnten. »Sobald ich seine
Brieftasche auf dem Boden gesehen habe. Aber … er war es.«
Er machte eine Pause, dann wiederholte er es verwundert. »Er war es.«
»Wer war wer?« fragte Ralph.
David antwortete nicht, sondern starrte nur das Bild an. Es
zeigte drei Männer, die vor einer baufälligen Schlackensteinhütte standen
- dem Budweiser-Schild im Fenster nach zu
schließen, eine Bar. Asiaten drängten sich auf dem Bürgersteig
davor. Am linken Bildrand, für alle Zeiten zu einer Schliere
auf diesem alten Schnappschuß erstarrt, war ein Mädchen auf
einem Motorroller zu sehen.
Die beiden außen stehenden Männer trugen Polohemden
und weite Hosen. Einer war sehr groß und hielt ein Notizbuch
in der Hand. Der andere war mit Kameras behängt. Der Mann
in der Mitte trug Jeans und ein graues T-Shirt. Eine Baseballkappe der Yankees hatte er weit in den Nacken zurückgeschoben. Über seiner Brust spannte sich ein Gurt; etwas Klobiges
in einem Gehäuse hing an seiner Hüfte.
»Sein Radio«, flüsterte David und strich über den Gegenstand in dem Kasten.
»Nee«, sagte Steve, als er es sich genauer angesehen hatte.
»Das ist ein Kassettenrecorder, Baujahr 1968.«
»Als ich ihn im Land der Toten getroffen habe, war es ein
Radio.« David konnte den Blick nicht von dem Bild abwenden. Sein Mund war trocken; seine Zunge fühlte sich groß und
aufgedunsen an. Der Mann in der Mitte grinste; er hielt eine
verspiegelte Sonnenbrille in einer Hand, und es konnte kein
Zweifel daran bestehen, um wen es sich handelte.
Über der Tür der Bar, die sie offenbar gerade verlassen hatten, hing ein handgeschriebenes Schild. Der Name der Kneipe
war Der

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