Die 39 Zeichen 08 - Die Entführung am Himalaya
währenddessen in einem Hagel aus Pfeilen und unter einem Schwall kochendem Öl ums Leben gekommen wären.
Das müsste Dan sehen, dachte Amy. Pfeile und kochendes Öl waren genau nach seinem Geschmack. Doch es war nicht nur die Kriegsgeschichte der Chinesischen Mauer , die Amy an ihren Bruder denken ließ. Es verging kaum eine Minute, in der sie nicht über ihren hässlichen Streit auf dem Platz des Himmlischen Friedens nachgrübelte.
Und nun war Dan verschwunden. Na ja, nicht ganz – er hatte sich ja nicht einfach in Luft aufgelöst. Amy wusste, bei wem er war, wenn auch nicht, wo.
Eine unangenehme Erinnerung kehrte zurück – das düstere Bild eines langen, feuchten Körpers mit einem dicken, gezackten Reptilienschwanz: ein sechs Meter langes Nilkrokodil.
Jonah Wizard konnte man nicht über den Weg trauen.
Es war mehr als zwei Tage her, seit sie ihren Bruder das letzte Mal gesehen hatte. Das war die längste Trennung seit dem Tag, da ihre Mutterkleinen Kerl aus dem Krankenhaus nach Hause gebracht und Amys Leben ruiniert hatte. Nun dämmerte es Amy, dass sie ohne Dan überhaupt kein Leben hatte.
Sie dachte an das Begräbnis ihrer Großmutter zurück, als sie und ihr Bruder von der Suche nach den Zeichen erfahren hatten. Sie hatten sich damals zunächst Grace zuliebe entschlossen, daran teilzunehmen. Doch als die Jagd sie nach Paris geführt hatte, hielten beide aus vollem Herzen den Wettbewerb für das Wichtigste auf Erden.
Mit jeder Stunde, die verging, wuchs in Amy nun aber die Überzeugung, dass die ganze Sache nichts wert war, wenn sie ihren Bruder nicht wiederfand.
Wo bist du, Dan? Ist es meine Schuld? Bist du wirklich so wütend, dass du nie wieder zurückkommen willst?
Seine letzten Worte an sie fielen ihr wieder ein: Ich hasse dich! Klarer hätte er sich wohl kaum ausdrücken können.
Sie machte es ihm nicht zum Vorwurf, dass er sie dafür hasste, was sie über ihre Eltern gesagt hatte. Irgendwie war sie sogar richtig stolz darauf, dass er sie verteidigte.
Wie konnte sie nur dankbar sein, dass ihre Eltern tot waren!
Dass sie so etwas auch nur denken konnte, war fast so etwas wie eine Visitenkarte, auf der fett das Wort MADRIGAL prangte.
»Ich kann dich jetzt nicht runterlassen, Saladin, also hör auf zu zappeln«, murmelte Nellie verärgert. »Hier ist zu viel los. Du würdest uns bloß abhandenkommen.«
»Mrrp«, beschwerte sich der Kater.
Zu viel los. Amy erschauderte. Das konnte man laut sagen! Ihr Bus war nur einer von Hunderten gewesen. Die Touristen waren wie eine Heuschreckenplage über den Busparkplatz hereingefallen, dazu kamen Reiseführer, Souvenirverkäufer und Sicherheitskräfte. Und dieser ganze Krimskrams! Alle Souvenirs, die dort verkauft wurden, könnten glatt 50 Einkaufszentren füllen: Scherenschnitte von Postkartengröße bis zum wandfüllenden Posterformat, kunstvolle Schnitzereien aus Walnussschalen, Bilder aus Muscheln und Federn; Seidendrachen, Spielsachen, kleine Figuren, Tausende chinesischer Puzzles. Manches war wunderschöne Volkskunst, anderes einfach nur billiger Ramsch.
Überall standen die Kunden in nie enden wollenden Schlangen an. Verglichen mit diesem Ansturm war der Platz des Himmlischen Friedens geradezu menschenleer gewesen. Amy verlor fast die Orientierung. Nur ein Gedanke in ihrem Kopf verhinderte, dass sie völlig in der Menge unterging: Jonah zieht die Massen an … Finde ich Jonah, dann habe ich auch Dan wieder …
Doch bisher handelte es sich bei den Menschenmassen nicht um Wizard-Fans, sondern ausschließlich um Touristen. Gegen die Chinesische Mauer verblasste jeder Teenager-Star, sogar der wunderbare und allseits beliebte Wiz.
Nellie blickte über die Brüstung zu den lila gefärbten Bergen, die sich endlos hinzuziehen schienen. »Ganz schön raffiniert. Von hier aus könnte man eine Invasionsarmee schon aus 30 Kilometer Entfernung entdecken. Bist du sicher, dass die Kaiser Janus waren? Der Ort hier wirkt auf mich so typisch Lucian.«
Amy schüttelte den Kopf. »Damals gab es weder Lucian noch Janus. Mit dem Bau der Mauer wurde bereits 2000 Jahre vor Gideon Cahills Geburt begonnen.«
Das Au-pair-Mädchen lächelte sie schief an. »Ich vergesse manchmal, dass es immer noch ein paar Sachen auf diesem Planeten gibt, bei denen ihr Cahills nicht die Finger im Spiel hattet.« Die Sonne stand mittlerweile tief am Himmel und sie musste die Augen zusammenkneifen, um den nächsten Turm zu erkennen. »Sieht so aus, als wären da hinten eine Menge
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