Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
nicht, dass Rache dahintersteckt. Nicht in erster Linie.« Gillian nahm seine Reisetasche vom Bett und wies zur Tür. »Aber verschwinden wir erst mal von hier. Vielleicht schaffen wir es noch rechtzeitig zum Bahnhof, um den letzten
Zug nach Prag zu bekommen. Wir können unterwegs weiterreden.«
Sie verließen das Zimmer und betraten durch die Glastür das Treppenhaus. Das dröhnende Rattern einer Tram ließ die Scheiben erzittern.
Während sie die Stufen hinabstiegen, sagte Gillian mit gesenkter Stimme: »Er hätte sich in diesen dreizehn Jahren hundertmal an uns rächen können. Aber warum sollte er das überhaupt tun? Aura hat ihn am Leben gelassen, als sie die Möglichkeit hatte, ihn umzubringen. Was könnte er ihr nachtragen? Und ich war nur ein Handlanger, und das im Auftrag von Morgantus – auch wenn ich damals dachte, er wäre Lysander.« Als er Gians gerunzelte Stirn bemerkte, musste er ein Lachen unterdrücken. »Das waren komplizierte Zeiten ... Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Morgantus ist tot. Er hätte einen Grund gehabt, mich zu hassen und wohl auch Aura. Aber Lysander? Er schien am Ende ganz zahm.«
»Vielleicht hat er Mutter und Sylvette nur etwas vorgespielt.«
Die Holzstufen im Treppenhaus der alten Pension knirschten unter ihren Sohlen. Hinter der Wand rumorte der Lift, während die Kabine nach oben fuhr. Gillian hatte Aufzüge nie gemocht. Kein Fluchtweg, wenn es darauf ankam.
»Sylvette hat Jahre an Lysanders Seite gelebt«, sagte Gillian. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich derart von ihm hätte täuschen lassen.«
»Sie war fast noch ein Kind. Und selbst wenn sie ihm zu Recht geglaubt hätte – Menschen ändern sich. Und jemand wie Lysander ... Würdest du deine Hand für ihn ins Feuer legen?«
Gillian blieb auf der untersten Treppe stehen und hielt Gian am Arm zurück. »Ich weiß, dass er dahintersteckt. Nenn es von mir aus Intuition. Ich habe lange genug für ihn und Morgantus gearbeitet. Was ich nicht verstehe, ist das Motiv. Ich glaube einfach
nicht, dass es ihm um Rache geht. Da ist noch irgendwas anderes im Spiel.«
Nebeneinander nahmen sie die letzten Stufen zum Foyer.
»Wir müssen Aura warnen«, sagte Gillian. »Ich denke nicht, dass sie eine Vorstellung von dem hat, womit sie es in Prag tatsächlich zu tun hat.«
»Unterschätze sie nicht. Im Saint Ange hab ich gesehen, wozu sie fähig ist.«
Gillian deutete zur Rezeptionskabine und legte einen Finger an die Lippen. »Ich unterschätze sie ganz bestimmt nicht.« Er lächelte. »Und dich auch nicht.« Er zog seine Geldbörse aus dem Mantel und trat vor die Rezeption. »Ich möchte abreisen.«
Zwei Stockwerke über ihnen wurde das Gitter des Aufzugs rasselnd beiseitegeschoben.
Die Rezeptionistin saß hinter der Theke, mit hängenden Armen, den Kopf weit zurückgebogen. Auf einer Kommode hinter ihr war eine Porzellanminiatur des Stephansdoms in Blut getaucht. Hirnmasse verklebte kleine Nippfiguren und einen Postkartenständer.
Oben im Haus wurde eine Tür eingetreten.
KAPITEL 34
Sie kamen die Treppen herabgestürmt, drei Männer den Schritten nach. In zwanzig Sekunden würden sie unten sein.
Gillian zog Gian wortlos zum Haupteingang.
»Warte«, flüsterte er, drückte die Tür einen Spaltbreit auf und sah hinaus ins Dunkel. Am Fuß der Außentreppe standen drei weitere Männer und beobachteten den Bürgersteig und die Straße. Niemand sollte in diesen Minuten die Pension betreten.
Er schloss die Tür wieder, ohne dass sie ihn bemerkten. »Wir haben eine Chance«, sagte er zu Gian. Der war leichenblass geworden, aber keineswegs gelähmt vor Schreck. Brauchbares Erbgut, von beiden Seiten.
Die Schritte auf der Treppe polterten heran. Die Männer konnten nicht wissen, dass die beiden hier unten waren. Ein Stockwerk noch.
Gillian nickte zur Tür des Frühstücksraums hinüber, gegenüber der Rezeption. Mit wenigen Schritten waren sie dort. Halb hatte er befürchtet, dass der Durchgang so spät am Abend abgeschlossen wäre, doch die Tür schwang auf und sie huschten mit ihrem Gepäck hinein.
»Nicht zumachen«, raunte er Gian zu, »nur anlehnen.« Auf keinen Fall Geräusche verursachen. Wenn sie Glück hatten, erinnerte sich keiner der Männer daran, dass die Tür bei ihrer Ankunft geschlossen gewesen war.
Der Raum war düster, nur durch die Gardinen am Fenster fiel das Licht einer Straßenlaterne herein. Zwei der fünf Tische waren für das Frühstück am nächsten Morgen eingedeckt.
Gillian
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