Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
Gefühl für Gefahren abging.
Nombeko erwiderte, wenn jemand das jetzt noch nicht begriffen habe, seien Erklärungen zwecklos, aber es müsse auf jeden Fall so geschehen, wie sie gesagt habe.
Da kamen die Mädchen überein, dass es jetzt reichte mit ihrem Abenteuer. Sie hatten schon ein nettes Sümmchen zusammengespart, und viel mehr würde es ja auch nicht mehr werden, wenn sie ab jetzt ausschließlich auf die Preisvorstellungen des amerikanischen Töpfers angewiesen waren.
Also füllten sie ihren VW -Bus mit zweihundertsechzig frisch produzierten Tonskulpturen aus vorchristlicher Zeit, umarmten Nombeko zum Abschied und machten sich auf den Weg in die Schweiz, zu Onkel Cheng T ā o und seinem Antiquitätenladen. Die Waren, die sie mit sich führten, waren zum einen Gänse, die für neunundvierzigtausend Dollar pro Stück verkauft werden sollten, zum anderen Pferde für neunundsiebzigtausend pro Stück und dann noch eine Handvoll anderer Objekte, die so missraten waren, dass sie mehr als Einzelstücke und daher mit Preisen zwischen hundertsechzig- und dreihunderttausend Dollar ausgezeichnet waren. Der amerikanische Töpfer hingegen reiste wieder von Markt zu Markt und verkaufte seine eigenen Exemplare für neununddreißig Kronen. Und war glücklich, weil er endlich keine Kompromisse bei der Preisgestaltung mehr eingehen musste.
Nombeko hatte beim Abschied gemeint, dass die Schwestern sicher ein passendes Preisniveau gewählt hatten, wenn man bedachte, wie alt und schön die Stücke waren, vor allem für das Auge des Laien. Aber für den Fall, dass sich die Schweizer nicht so leicht hinters Licht führen ließen wie die Schweden, wollte sie den Mädchen doch den Rat mit auf den Weg geben, nicht schlampig zu werden mit ihren Echtheitszertifikaten.
Darauf antwortete Große Schwester, dass Nombeko sich keine Sorgen zu machen brauche. Wie jeder Mensch hatte auch ihr Onkel bestimmt seine Fehler, aber in der Kunst, falsche Echtheitszertifikate herzustellen, konnte ihm keiner das Wasser reichen. Er hatte zwar mal vier Jahre in England gesessen, aber daran war in erster Linie dieser Pfuscher in London schuld, der so ein schlampiges echtes Echtheitszertifikat ausgefertigt hatte, dass die Fälschung des Onkels daneben viel zu gut ausgesehen hatte. Der Pfuscher war sogar drei Monate im Gefängnis gewesen, bis Scotland Yard dahinterkam, wie es sich wirklich verhielt: dass nämlich die Fälschung im Gegensatz zum Original keine Fälschung war.
Aus diesem Fehler hatte Cheng T ā o gelernt. Nun achtete er darauf, nicht zu perfekt zu arbeiten. So wie die Mädchen, wenn sie den Han-Dynastie-Pferden ein Ohr abschlugen, um den Preis in die Höhe zu treiben. Es würde alles gutgehen, versprachen sie Nombeko.
»In England?«, fragte Nombeko, vor allem, weil sie sich nicht sicher war, ob die Mädchen den Unterschied zwischen Großbritannien und der Schweiz kannten.
Nein, das war Geschichte. Während seines Gefängnisaufenthalts hatte sich der Onkel die Zelle mit einem Schweizer Heiratsschwindler geteilt, der seine Arbeit so verdammt gut gemacht hatte, dass er doppelt so viele Jahre absitzen musste. Daher brauchte der Schweizer seine Identität erst mal eine Weile nicht und lieh sie dem Onkel, vielleicht auch, ohne dass Letzterer vorher gefragt hätte. Als er freikam, stand die Polizei vor den Gefängnistoren und erwartete ihn. Sie wollten ihn nach Liberia ausweisen, weil er von dort gekommen war. Doch dann stellte sich heraus, dass der Chinese kein Afrikaner, sondern Schweizer war, also schickten sie ihn stattdessen nach Basel. Oder war es Bern? Oder Bonn? Vielleicht auch Berlin. Auf jeden Fall in die Schweiz, wie gesagt.
»Auf Wiedersehen, liebe Nombeko«, sagten die Mädchen auf isiXhosa, der Sprache, von der sie immer noch ein paar Brocken beherrschten, und dann fuhren sie los.
» !«, sagte Nombeko dem VW -Bus hinterher. »Viel Glück!«
Während sie den Mädchen hinterhersah, berechnete sie in Sekundenschnelle die statistische Wahrscheinlichkeit, dass drei illegale chinesische Flüchtlinge, die Basel nicht von Berlin unterscheiden konnten, es in einem unversicherten VW -Bus quer durch Europa schafften, die Schweiz fanden, einreisten und dort auf ihren Onkel stießen. Ohne aufzufliegen.
Da Nombeko die Mädchen nicht wiedersah, erfuhr sie nie, dass sie schon früh beschlossen, geradeaus durch Europa zu fahren, bis sie auf das Land stießen, das sie suchten. Geradeaus war das einzig Richtige, dachten sich die Mädchen, denn
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