Die Angebetete
Absage zu benutzen, indem sie behauptete, ihr Hals schmerze noch immer, obwohl das nicht der Wahrheit entsprach. Doch nachdem sie hier eingetroffen war, die Band begrüßt, ihre Gitarre gestimmt und die Bühne betreten hatte, änderte ihre Einstellung sich völlig.
Nun konnte sie das Konzert kaum noch erwarten. Nichts würde sie davon abhalten, dem Publikum die beste Show zu bieten, die es je zu sehen bekommen hatte.
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Der Fall war abgeschlossen.
Doch als Folge davon musste Kathryn Dance sich nun einem größeren Problem stellen.
Und zwar schon ziemlich bald. Sie hatte entschieden, dass heute der Tag dafür sein würde.
Nach einem üppigen Brunch mit huevos rancheros befand sie sich nun wieder in ihrem Zimmer im Mountain View Motel. Sie telefonierte mit Martine, ihrer Website-Partnerin, und besprach die Songs, die sie von Los Trabajadores aufgenommen hatte. Sie hatte sie der Frau per E-Mail geschickt, und sie hatten ewig diskutiert, welche der zwei Dutzend Titel sie auf ihrer Internetseite anbieten würden.
Die Entscheidung fiel schwer; die Lieder waren alle so gut.
Doch wenn Martine sprach, schweiften Dance’ Gedanken bisweilen zu dem größeren Problem ab, das sie nun in Angriff nehmen wollte: der Frage nach den Männern in ihrem Leben. Nein, das stimmt nicht, berichtigte sie sich. Es gab nur einen Mann in ihrem Leben – in dieser Hinsicht. Jon Boling. Ungeachtet dessen, dass er kurz davor stand, die Beziehung zu beenden. Sie musste Michael O’Neil vorläufig außer Acht lassen. Hier ging es um sie und Boling.
Also, was mache ich nun?
»Hallo, bist du noch da?«, holte Martines Stimme sie aus ihren Überlegungen.
»Entschuldigung«, sagte sie ins Telefon. Sie setzten die Besprechung fort und einigten sich auf eine Titelliste. Dann trennte Dance die Verbindung, setzte sich aufs Bett und dachte: Ruf Jon an. Bring’s hinter dich.
Sie sah aus dem Fenster. An einem wirklich klaren Tag konnte man von hier aus vielleicht tatsächlich die Berge erkennen. Doch der heutige Tag war alles andere als klar, nicht am Ende des Sommers hier in Fresno.
Dann studierte sie eingehend ihr Mobiltelefon, drehte es wieder und wieder in ihrer Hand.
Der Fotoaufkleber auf der Rückseite zeigte zwei strahlend lächelnde Kinder und zwei Hunde, die ganz außer sich vor Freude waren.
Auf der Vorderseite war ihr Adressbuch ausgewählt und Jon Bolings Nummer bereits markiert. Ein Knopfdruck würde genügen.
Zurück zu den Fotos.
Ihr Blick fiel auf ein schlechtes Gemälde an der Wand – von einem Hafen. Glaubte der Raumausstatter, dass alle Kalifornier Segelboote besaßen, sogar hier, drei Stunden von der Küste entfernt?
Umdrehen … das Adressbuch. Ihr Zopf kitzelte ihr linkes Ohr. Sie schob die Strähnen gedankenverloren zur Seite.
Anrufen oder nicht, anrufen oder nicht?
Sie wollte ihn unumwunden fragen, weshalb er nach San Diego zog, ohne vorher mit ihr zu sprechen. Seltsam, dachte sie. Es bereitete ihr keine Schwierigkeiten, ihre Raubtierbrille aufzusetzen und gegenüber dem höhnisch grinsenden Manuel Martinez Platz zu nehmen, um von diesem Gangster aus Salinas in Erfahrung zu bringen, wo er die Überreste von Hector Alonzo verscharrt hatte, vor allem den Kopf. Doch schon das bloße Vorhaben, ihrem Geliebten eine simple Frage über seine Absichten zu stellen, lähmte sie.
Dann ein Anflug von Zorn. Was dachte er sich dabei? Er freundete sich mit den Kindern an, wurde Teil ihres Lebens, fügte sich in ihre Familie ein und alles ohne jegliche Probleme.
Sie wurde analytisch. Womöglich war das die Antwort: Oberflächlich betrachtet war Jon Boling perfekt für sie gewesen, gut in Form, witzig, nett, sexy. Es hatte kein böses Wort zwischen ihnen gegeben, keinen Streit, keine prinzipiellen Konflikte – im Gegensatz zu den Auseinandersetzungen zwischen ihr und Michael O’Neil … Halt, ermahnte sie sich. O’Neil durfte hierbei keine Rolle spielen.
Bedeutete die Abwesenheit von Reibungen in ihrer Beziehung mit Boling, dass die Zahnräder der Liebe nicht wirklich ineinandergriffen?
War Liebe nur echt, wenn sie anstrengend war?
Das kam ihr widersinnig vor.
Sie umklammerte das Telefon, drehte es wieder und wieder und wieder.
Anrufen, nicht anrufen?
Kinder – Display – Kinder – Display – Kinder – Display …
Vielleicht sollte ich das Ding wie eine Münze aufs Bett werfen und dem Schicksal die Entscheidung überlassen.
Kinder – Display – Kinder – Display …
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Kayleigh traf den sich langsam
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