Die Asche der Erde
Befehle. Die
Anna
wendete und hielt genau auf sie zu.
Sekunden später peitschten Schüsse auf. Wenige Zentimeter neben Hadrians Bein splitterte das Holz.
Die küstennahe Brise trieb sie in Richtung Land, aber das galt auch für die
Anna
, die zudem größer war und dem Wind mehr Angriffsfläche bot. Wades Flüche wurden lauter, unterbrochen durch bestürzte Rufe des Maschinisten. Scanlon leerte den Revolver, lief zum Bug und nahm einen Bootshaken. Die
Anna
kam immer näher.
Jori legte panisch ihre Hände über seine und versuchte verzweifelt, ihn beim Rudern zu unterstützen. Dax stand am Bug und hielt den kleinen Anker, als wolle er damit nach Scanlon werfen, der nun wütend etwas schrie.
Dann war die
Anna
heran, rammte und zermalmte das Heck des Beiboots, und Scanlon schlug mit dem Bootshaken nach Hadrians Kopf.
Und im nächsten Moment gab es die
Anna
und ihre Besatzung nicht mehr. Hadrian erinnerte sich weniger an das Geräusch als vielmehr an den jähen Windstoß und die Trümmer – und an die kurze, aber mächtige Woge, die über sie hinwegrollte, während überall die Reste der
Anna
herabregneten.
Das Beiboot war weg, und er lag im Wasser. Seine Kleidung sog sich sofort voll, und die kalte schwarze Tiefe zog ihn nach unten. Dann packte ihn eine Hand, und Jori zerrte ihn auf ein großes Wrackteil der
Anna
. Von den drei Männern war nichts zu sehen, lediglich Reste des Bootsrumpfes trieben in einem Kreis.
»Da!«, rief Jori und zeigte auf eine schmale Gestalt auf einem anderen, kleineren Wrackteil in fünfzehn Metern Entfernung.
»Paddele ans Ufer!«, rief Hadrian dem Jungen zu. Dax fischte ein Brett aus dem Wasser und machte sich ans Werk.
»Ich weiß einen Ort«, sagte er zu Jori, als sie ihm ein Brett reichte. »Halten Sie nach einem Pfad zwischen zwei Birken Ausschau. Er führt zur Spitze des zweiten Berges.«
Doch als er paddeln wollte, schien etwas seinen Arm zurückzuhalten. Seine Schulter wurde steif. Ihm war ein wenig schwindlig.
Jori sah hin und keuchte auf. »Ihre Schulter!«, rief sie. »Da steckt ein Stück Holz.«
Hadrian sank auf das provisorische Floß. Das kalte Wasser des Sees umspülte seine Beine. »Ziehen Sie es raus.«
»Hadrian, es ist zu groß.«
»Ziehen Sie es raus!«, rief er.
Jori beugte sich über ihn und zog.
Nun erst brachen die Schmerzen mit voller Wucht über Hadrian herein. Er hatte den verschwommenen Eindruck, dass Jori ihm einen langen, daumendicken Splitter zeigte. Dann schmeckte er das Salz, während sein Blut sich mit dem Wasser auf ihrem zerbrechlichen Gefährt mischte.
Obwohl Jori schrie, er solle damit aufhören, wollte er sich aufrichten und wieder paddeln, doch seine Kraft war weg. Also blieb er auf dem Trümmerstück liegen, das zum Spielball der Wellen wurde. Es fing wieder an zu schneien. Ein neuer, eisiger Sturm zog auf. Hadrian schloss die Augen und musste ständig Wasser und Blut aushusten. Die brennenden Schmerzen wurden so stark, dass sie sogar die schreckliche Kälte überlagerten. Er war zu schwach, um sich zu rühren. Es hatte ohnehin kaum Hoffnung bestanden, und letztlich war es ihm nur gelungen, ihr Ende ein paar qualvolle Minutenhinauszuzögern. Das Ufer lag immer noch anderthalb Kilometer entfernt. Er hatte verloren. Wade hatte recht gehabt: Er würde es nie verstehen. Er hatte sein Bestes gegeben und verloren. Nie und nimmer würde er es schaffen, sich lange genug festzuhalten, und wenn er von dem Wrackteil glitt, würde er ewig in die eiskalte endlose Schwärze hinabsinken.
K APITEL ZEHN
Schmerz und Fieber waren seine Welt. Hadrian litt solche Qualen und brannte so heiß, dass er außer alptraumhaften Bildern und Geräuschen nichts wahrnahm. Dax trieb unter der Wasseroberfläche und starrte ihn mit toten Augen an. Carthage wurde ein Raub der Flammen. Man ließ ihn auf dem Fischereigelände in den Rachen eines der großen Häcksler hinab. Jonah, grauhäutig aus dem Grab, tadelte ihn dafür, sein Leben verschwendet zu haben. Nellys Leichnam baumelte im Wind von einem Galgen. Raketen schlugen in der Schule seiner Kinder ein.
Angstschreie holten ihn aus der Bewusstlosigkeit. Er stürzte auf einem steilen vereisten Pfad. Ihm geriet Schnee in die Ohren. Seine geschlossenen Augenlider froren fest. Unmittelbar bevor er wieder ohnmächtig wurde, erkannte er, dass die Schreie von ihm selbst stammten.
Er glaubte sich an frostige Windböen zu erinnern, an eine dunkle Bestie, die ihn mit der Schnauze anstieß und beschnüffelte, an große
Weitere Kostenlose Bücher