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Die Asche der Erde

Die Asche der Erde

Titel: Die Asche der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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nie so viel Mühe machen. Sauger hat es uns versprochen. Er hat eine Vereinbarung mit Fletcher getroffen. Fletcher will uns als seine verdammten Sklaven, aber wir bleiben am Leben.«
    Hadrian hätte sie am liebsten bei den Schultern gepackt,ordentlich durchgeschüttelt und ihr ins Gesicht geschrien, dass man Sauger nicht trauen konnte und er absolut überzeugt war, dass ihnen höchstens noch ein paar Stunden zu leben blieben. Doch als sie ihn ansah, konnte er sich nicht dazu durchringen.
    Er setzte sich neben sie. »Erzählen Sie mir von Ihrer Mutter«, bat er.
    Nach anfänglichem Zögern und einem besorgten Seitenblick berichtete Jori von einer liebevollen, stets müden Frau, einer Überlebenden, die in den Anfangstagen der Kolonie dort eingetroffen war und während der folgenden fünf Jahre fünf Kinder geboren hatte, von denen zwei noch als Säuglinge gestorben waren. Ihre Gutenachtgeschichten waren zumeist nur leicht verfremdete Beschreibungen der alten Welt, und ihre Freizeitbeschäftigung, das Weben, war ihr nach dem Tod von Joris Vater zum Broterwerb geworden.
    »Als ich zehn war, habe ich sie mal mitten in der Nacht am Kamin einen Brief schreiben gesehen. Damals gab es so gut wie kein Papier, und wir mussten Seiten aus alten Büchern reißen und auf die Ränder schreiben. Ihre Finger waren fast wund, weil sie den ganzen Tag am Webstuhl gesessen hatte, und ich konnte erkennen, wie schmerzhaft diese Anstrengung für sie war. Als sie fertig war, hat sie den Brief gefaltet, sich auf einen Hocker gestellt und ihn hinter einem der Deckenbalken versteckt. Ich habe Tage gebraucht, um mir zu überlegen, wie ich nach da oben komme, aber am Ende ist es mir geglückt. Dort steckte ein ganzes Dutzend Briefe, alle an meinen Vater gerichtet, der Jahre zuvor auf dem See verlorengegangen war.«
    Auf dem See verlorengegangen
. In den ersten Jahren waren die meisten derjenigen, die im Wasser zu Tode kamen, keine Fischer. Es nahmen sich so viele auf diese Weise das Leben, dass die Worte zu einem weiteren Euphemismus fürSelbstmord wurden. Emily hatte ihm erzählt, Joris Vater sei schwach und chronisch krank gewesen, ständig in Gefahr, verbannt zu werden. Die Lebensmüden steckten sich Schienennägel in den Gürtel und sprangen von Bord ihrer geliehenen Ruderboote.
    »Immer wenn jemand von meinem Vater in der Vergangenheitsform gesprochen hat, wies meine Mutter darauf hin, sein Leichnam sei nie gefunden worden«, fuhr Jori fort. »Sie schrieb ihre Briefe, als wäre er noch am Leben, als hätte er irgendwo ein schöneres Heim für uns errichtet und würde uns demnächst zu sich holen. Sie berichtete ihm von uns Kindern und unserem Alltag, was wir in der Schule machten und wie viele Punkte ich beim Lacrosse erzielt hatte. Einmal schrieb sie, er könne sehr stolz auf mich sein. Schon komisch. Ich hätte es vielleicht verstanden, wenn sie die Briefe in unserem Beisein verfasst hätte, damit wir glauben würden, er sei noch am Leben. Aber sie tat es heimlich. Ich habe ihr nie erzählt, dass ich davon wusste. Hin und wieder habe ich nachgesehen. Die Briefe wurden weniger und weniger. Der Letzte liegt nun schon Jahre zurück. Aber sie stecken immer noch da oben hinter den Balken.«
    Sie saßen schweigend da und lauschten dem Wasser auf der anderen Seite der Planken, dem gleichförmigen, fast einschläfernden Rauschen, mit dem sie ihrem Schicksal entgegeneilten.
    Hadrian stand auf und spähte durch das Astloch, das er tags zuvor geöffnet hatte. In dem kleinen Frachtraum stand ein halbes Dutzend Kisten, kleinere Ausgaben des Behälters, den sie in dem Versteck in der Schmugglerwohnung gefunden hatten.
    »Wenn Sie zu uns in den Unterricht gekommen sind und mit uns geredet haben, habe ich mich insgeheim oft gefragt, wie es Ihnen wohl ergangen sein mochte. Niemand wussteje etwas über Ihre Angehörigen. Sie müssen doch eine Familie gehabt haben.«
    Hadrian starrte in die Dunkelheit. »Es gab da mal einen Hund«, erzählte er schließlich. »Das war ein paar Wochen, nachdem wir mit der Errichtung der Kolonie angefangen hatten. Ein kleines graues Terrierweibchen, nur wenig größer als ein Eichhörnchen. Aber sie war zäh wie nur irgendwas. Ich habe sie im Wald gefunden, wo sie sich von Mäusen ernährt hat. Da war eine kleine Höhle, und ich habe ihr ein Bett aus Zedernzweigen gemacht. Mitnehmen konnte ich sie nicht, sonst wäre sie im Kochtopf gelandet. Ich habe einen Teil meiner Rationen aufgespart und in ein Stück Stoff gewickelt, und

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