DIE ASSASSINE
von der Zeit gezeichneten Züge.
Ich hörte Wasser plätschern, Gelächter, spürte die Wärme von Sonnenlicht im Gesicht.
An der Mündung der Gasse richtete ich mich auf und setzte mich langsam in Bewegung, bis ich am Rand des leeren Beckens stand und auf dessen gesprungenen Boden hinunterblickte.
Nur war das Becken nicht mehr leer. Nicht in meiner Erinnerung. Es war voll. Gleißendes Sonnenlicht, das auf der Wasseroberfläche funkelte, leuchtete mir in die Augen, und ich blinzelte, spürte warme Hände, die mir unter die Achseln fassten, mich nackt über den Beckenrand hoben. Kühles Wasser jagte einen Schauder durch meine Füße und die Beine hinauf, als ich ins Becken gestellt wurde. Ich schrie – ein kindlicher Schrei puren Vergnügens. Der Schrei einer Sechsjährigen. Ehe meine Zehen den Boden berührten, strampelte ich mit beiden Beinen und spritzte meiner Mutter Wasser ins Gesicht.
Sie hatte weiche Züge, die im gespiegelten Sonnenlicht und vom Schleier der Erinnerung seltsam verschwommen wirkten. Aber ich konnte ihre Augen sehen. Dunkle Augen, braun, fast schwarz, mit winzigen grünen Tupfern. Sie erinnerten mich an die Augen der erdrosselten Frau, die Frau mit den Kartoffeln.
Sie zuckte vor dem spritzenden Wasser zurück und lachte, obwohl sie mich ein wenig tadelnd anschaute, ehe sie mich auf dem Steinboden des Beckens stellte und losließ.
Ich kniete mich sofort hin, bespritzte sie mit den Händen und kreischte, als sie nun ihrerseits mich bespritzte. Ich watete von ihr weg, strauchelte auf dem unebenen Boden, fiel …
… und tauchte unter. Das Wasser schloss sich über meinem Kopf, umhüllte mich kühl, drang mir in die Augen, in die Nase. Die Geräusche des Brunnenkreises, der redenden Menschen, der fröhlich kreischenden Kinder, das Lachen meiner Mutter – dies alles verwandelte sich schlagartig in ein gedämpftes Tosen wie ferner Sturmwind. Das grelle Gleißen der Sonne wurde grau. Instinktiv presste ich den Mund zu, hielt die Augen jedoch offen.
Die ganze Welt wurde grau und trüb.
Etwas in mir verschob sich. Im Grauen des Augenblicks – ein kindliches Grauen, durchsetzt mit Furcht, Erschrecken und Hochgefühl – zerriss etwas in mir.
Und etwas anderes wurde freigesetzt, strömte hervor …
Dann packten mich die Hände meiner Mutter und hoben mich aus dem Becken. Ich prustete, spürte, wie mir Wasser aus den Ohren und aus der Nase lief. Ich tat einen jähen Atemzug; Wasser rann mir übers Gesicht, und das Haar klebte mir am Kopf und am Hals. Ich atmete zu hastig und hustete heiser.
Meine Mutter klopfte mir auf den Rücken. Geht es dir gut? Atme, Kleines, atme. Komm schon. Atme.
Ihre Stimme klang gedämpft, unnatürlich ruhig und doch durchsetzt von unterdrückter Panik.
Ich japste, sog erneut die Luft ein, dann noch einmal. Die Krämpfe in meiner Brust ließen nach.
Meine Mutter hob mich aus dem Becken, drückte mich an ihre Seite, sodass mein Kopf an ihrer Schulter ruhte und ich hinter sie schauen konnte.
Die Welt war immer noch grau, die Geräusche des Brunnens wirkten nach wie vor gedämpft, als wäre ich noch unter Wasser.
Komm , sagte meine Mutter. Der panische Unterton war aus ihrer Stimme verschwunden, doch nun klang sie erschöpft. Für heute hattest du genug Spaß. Es wird Zeit, dass wir nach Hause gehen.
Ich klammerte mich an ihr fest, als sie sich in Bewegung setzte, zitterte ein wenig, drückte das Gesicht an ihre Schulter. Aber irgendetwas im Grau der Welt stach mir ins Auge, erregte meine Aufmerksamkeit.
Ich hob den Kopf und murmelte in ihre Schulter: Sieh nur, Mami. Sieh nur den roten Mann …
Am Rand des leeren Brunnens griff mir jemand an die Schulter. Ich wurde aus den Gedanken gerissen und fuhr herum. Die Schärfe des Sonnenlichts, des Wassers, der Gräue, des Windes und des roten Mannes schlugen abrupt wieder in Dunkelheit und feuchte Nachtluft um.
»Ich bin’s!«, stieß Erick hervor und trat rasch außer Reichweite meines Dolches, eine Hand schützend vor sich gestreckt.
Heftig atmend, mit pochendem Herzen, hielt ich inne. Dann blinzelte ich.
Ich hatte das Grau meiner Erinnerung mit zurück in die Gegenwart genommen. Und unter dem Fluss zeichnete Erick sich als ein Wirbel aus vermischtem Grau und Rot ab.
Der Anblick war bestürzend. Ich hatte noch nie jemanden mit vermischten Farben gesehen und wusste nicht, was es bedeutete.
»Ich dachte, du hättest mich kommen hören«, sagte er und entspannte sich. Seine Hand sank herab.
Unsere Blicke
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