Die Auserwählte
sowohl tröstlich als auch banal. Ich ging wie benommen über das Kopfsteinpflaster. Meine Schritte führten mich zu einem Durchgang gegenüber dem Weg, der zum Fluß und zur Brücke führte. Ich blieb unter dem Torbogen stehen, so daß die Gemeinde mich von allen Seiten umgab, und blickte über den Rasen und den geschwungenen Weg, der zu den Bäumen am Flußufer hin abfiel. Mondschein warf den fahlen Schatten der Gartenmauer auf den Weg und spiegelte sich blitzend im Glas des Gewächshauses auf der anderen Seite. Ich blickte zu der dunklen Hügelkette im Süden, die sich wie eine riesige Welle gegen das Indigo des Himmels erhob.
Hinter mir konnte ich Gesang und die begleitenden Akkorde einer Gitarre hören und dann Kinderlachen, weit entfernt, schnell verhallt.
Der Wind raschelte in den Baumwipfeln. Ich ging den Weg hinunter, nicht sicher, wohin mich meine Schritte führen würden oder was ich eigentlich vorhatte. Der Weg unter den rauschenden Bäumen war dunkel; über dem Fluß wurde er wieder etwas heller, und die alte Brücke sah trügerisch solide und heil aus, wie sie sich über das pechschwarze Wasser spannte. Jenseits davon drang ein schmaler Streifen gelben elektrischen Lichts durch die zugezogenen Vorhänge eines Fensters in dem kleinen Fachwerkhaus der Woodbeans.
Ich ging bis in die Mitte der Brücke und stieg dann vorsichtig über die löcherigen Bohlen an den Brückenrand an der flußabwärts liegenden Seite. Dort blieb ich stehen, direkt hinter dem verrosteten Eisenschild mit dem unidentifizierbaren Wappen, das Gesicht nach Osten gewandt. Ich reckte die Arme hoch, hielt mich an der rauhen, körnigen Oberfläche zweier Träger fest und beobachtete den Fluß. In der Dunkelheit schien er fest und bewegungslos, und nur ein gelegentliches, gedämpftes Gurgeln verriet seine träge, friedliche Strömung. Nach einer Weile vermeinte ich, einen fahlen Schatten auf dem Wasser ausmachen zu können, als der Mond in der zunehmenden Dunkelheit durch die Brücke schien. Ich konnte ihn nur sehen, wenn ich den Blick abwandte, doch wenn ich versuchte, mich selbst in jenem Schatten zu erkennen – während ich langsam einen Arm über meinem Kopf schwenkte –, dann vermochte ich es nicht.
Irgendwo in den Bäumen längst der Auffahrt schrie eine Eule, und in der Ferne konnte man das Motorengeräusch eines Autos hören, das ungesehen auf der Straße vorbeifuhr. Zwei winzige, flinke Silhouetten flatterten unter der Brücke hindurch, kaum auszumachen – offenkundig Fledermäuse.
»O Gott«, flüsterte ich. »Hilf mir.«
Ich schloß die Augen und stand dort in der Dunkelheit, während ich mit meiner ganzen Seele lauschte, während ich versuchte, die klare, besänftigende Stimme des Schöpfers heraufzubeschwören und mich ganz der Stille hingab, auf daß ich sie besser hören konnte. Ich hörte: den Fluß, der wie flüssige Dunkelheit unter mir dahinströmte; die Eule, leise und weit entfernt und geheimnisvoll, ein Jagdschrei, der wie Sehnsucht klang; das Säuseln der Luft, die die Äste, Zweige und Blätter erbeben ließ; das weit entfernte Grollen eines Motors, das im Wind erstarb. Ich hörte meinen eigenen Herzschlag: Isis, Isis, Isis…
Bilder tauchten vor meinem geistigen Auge auf, Fetzen von Unterhaltungen, drängten sich immer dichter heran, wetteiferten um meine Aufmerksamkeit; Großvaters Körper, Großvaters Stimme. Ich schüttelte ganz langsam den Kopf. Meine Gedanken waren noch immer zu laut, so daß sie alles andere übertönten; ich fühlte, daß Gott nah war, daß Er mir zuhörte, aber ich konnte Ihn nicht hören. Um mich herum mochten Stille und Frieden herrschen – der träge Fluß, der fast stumme Wind –, doch in meinem Verstand tobte ein tosender Sturm, und ich würde kein Wort von Gott vernehmen können, bis dieser Sturm sich wieder gelegt hatte.
Ich trat vorsichtig wieder zurück auf den hölzernen Weg, der im Zickzack über die morschen Bohlen der Brücke führte, und ging weiter zur Auffahrt vor dem Haus der Woodbeans. Ich spähte an dem schmalen, spielzeuggleichen Haus mit dem einzelnen kleinen Türmchen hoch. Das Licht, das ich vorhin gesehen hatte, brannte im Wohnzimmer im Erdgeschoß. Ich ging zur Tür und klopfte. Ich wußte noch immer nicht, ob ich versuchen würde, mit Großmutter Yolanda zu sprechen oder nicht.
Sophi öffnete die Tür, umfangen von Licht, in der Hand ein Buch; ihr langes Haar fiel ihr wie eine Kaskade über die Schultern.
»Is!« rief sie lächelnd. »Hallo. Ich hatte
Weitere Kostenlose Bücher