Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
ist meine nächste Angst. Meine Angst vor Nähe. Mein Leben lang war ich misstrauisch gegenüber Zuneigung, aber niemals habe ich geahnt, wie weit dieses Misstrauen geht.
Doch diese Prüfung ist anders als die anderen. Es ist eine andere Art von Angst– eine atemlose, nervöse Unruhe, kein blindes Entsetzen.
Er streift über meine Arme, umfasst meine Hüften. Seine Finger gleiten bis zu meinem Gürtel, tasten liebkosend über meinen Bauch.
Die Berührung lässt mich erschauern. Sanft stoße ich ihn zurück und presse meine Hände gegen die Stirn. Ich bin von Krähen angegriffen worden und von Fratzenmännern; ich bin in Brand gesteckt worden von jemandem, der mich tatsächlich schon einmal in den Tod stürzen wollte. Ich bin fast ertrunken– genauer gesagt zweimal–, und ausgerechnet hiermit werde ich nicht fertig? Das soll die Angst sein, der ich hilflos ausgeliefert bin? Die Nähe eines Jungen, den ich mag und der… mit mir schlafen will?
Der Tobias der Simulation küsst mich im Nacken.
Ich versuche, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich muss mich dieser Angst stellen. Ich muss die Situation in den Griff bekommen, ich muss einen Weg finden, mich nicht mehr davor zu fürchten.
Ich blicke dem Tobias der Simulation in die Augen und sage mit fester Stimme: » In dieser Traumwelt werde ich garantiert nicht mit dir schlafen, okay?«
Dann packe ich ihn bei der Schulter, wir drehen uns um, und ich dränge ihn gegen den Bettpfosten. Meine Angst ist weg, sie hat einem Kribbeln im Bauch Platz gemacht. Es überkommt mich einfach und ich lache los. Ich drücke mich an ihn und küsse ihn, ich halte seine Arme fest. Er fühlt sich stark an. Er fühlt sich… gut an.
Und dann ist er weg.
Ich halte mir die Hände vors Gesicht und lache, bis mir ganz heiß ist. Ich bin bestimmt die Einzige, die mit dieser Angst zu kämpfen hatte.
Ein lautes Klicken an meinem Ohr. Der Abzug einer Waffe.
Es geht weiter. Fast hätte ich es vergessen. Auch ich habe eine Waffe in der Hand. Ich fasse sie fester und lege den Zeigefinger an den Abzug. Von oben fällt ein Lichtstrahl herab, keine Ahnung, woher er kommt, und mitten in dem Lichtkegel stehen meine Mutter, mein Vater und mein Bruder.
» Tu es«, zischt jemand neben mir. Es ist die Stimme einer Frau, sie klingt rau, splittrig wie Steine und Glasscherben. Jeanine.
Ich spüre den Lauf der Waffe an meiner Schläfe wie einen kalten Ring. Die Kälte breitet sich in meinem ganzen Körper aus, bis mir die Nackenhaare zu Berge stehen. Ich wische meine schweißnasse Hand an meiner Hose ab und riskiere einen Blick auf die Frau. Ja, es ist Jeanine. Ihre Brille ist verrutscht und ihre Augen sind kalt und gefühllos.
Meine größte Angst: dass meine Familie stirbt und ich schuld daran bin.
» Tu es«, wiederholt sie scharf. » Tu es, oder ich werde dich töten.«
Hilfe suchend blicke ich Caleb an. Er nickt, seine Augenbrauen sind mitleidig zusammengekniffen. » Mach schon, Beatrice«, sagt er leise. » Ich verstehe das. Es ist gut so.«
Meine Augen brennen. » Nein.« Meine Kehle ist so eng, dass ich kaum schlucken kann. Ich schüttle den Kopf.
» Du hast noch zehn Sekunden!«, ruft die Frau. » Zehn! Neun!«
Mein Blick wandert von meinem Bruder zu meinem Vater. Als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, hat er mich verächtlich angeschaut, aber jetzt sind seine Augen groß und milde. Im wirklichen Leben habe ich ihn nie so gesehen.
» Beatrice«, sagt er. » Du hast keine andere Wahl.«
» Acht!«
» Beatrice«, sagt meine Mutter. Sie lächelt. Ihr Lächeln ist so süß. » Wir lieben dich.«
» Sieben!«
» Halt den Mund!«, schreie ich und packe die Waffe noch fester. Ich kann es tun. Ich kann sie erschießen. Und sie verstehen es sogar. Sie bitten mich, es zu tun. Sie wollen nicht, dass ich mich für sie opfere. Sie sind nicht echt, es ist ja alles nur eine Simulation.
» Sechs!«
Nichts davon ist echt. Es hat nicht das Geringste zu bedeuten. Die freundlichen Augen meines Bruders bohren mir ein Loch in den Kopf. Meine Hände schwitzen, ich kann die Waffe nicht mehr richtig festhalten.
» Fünf!«
Mir bleibt keine andere Wahl. Ich schließe die Augen. Denk nach, Tris, denk nach. Die Zwangslage, die mein Herz zum Rasen bringt, hat eine einzige Ursache: die Furcht um mein eigenes Leben.
» Vier! Drei!«
Was hat Tobias gesagt? Selbstlosigkeit und Tapferkeit sind im Grunde dasselbe?
» Zwei!«
Ich nehme den Finger vom Abzug und lasse die Waffe fallen. Ehe ich die Nerven
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