Die Bestimmung - Roth, V: Bestimmung
wird.
Er legt die Hand auf meine Schultern und streift dabei mein Pflaster.
» Hast du dich verletzt?«, fragt er verwundert.
» Nein. Ein Tattoo. Es ist schon verheilt. Ich wollte nur nicht… dass jeder es sieht.«
» Darf ich es denn sehen?«
Ich schlucke, dann nicke ich. Mit einem Ruck ziehe ich den Ärmel nach unten und mache die Schulter frei. Eine Sekunde lang rührt er sich nicht, dann fährt er mit dem Finger über die Stelle. Er malt eine geschwungene Linie auf meine Haut, streicht sanft über die Knochen, die stärker hervortreten, als mir lieb ist. Überall da, wo er mich berührt, habe ich das Gefühl, dass sich meine Haut verändert. Ich fühle das Kribbeln bis in meinen Bauch. Es ist nicht nur Angst. Es ist auch etwas anderes dabei. Verlangen.
Er hebt die Ecke des Pflasters an. Als sein Blick auf das Abzeichen der Altruan fällt, schmunzelt er.
» Ich habe das gleiche Tattoo«, sagt er lächelnd. » Auf dem Rücken.«
» Wirklich? Darf ich es sehen?«
Er drückt das Pflaster wieder zurecht und zieht mein T-Shirt über die Schulter.
» Willst du, dass ich mich ausziehe, Tris?«
Ich beantworte seine direkte Frage mit einem nervösen Lachen. » Nicht… ganz.«
Er nickt und ist mit einem Mal ganz ernst. Er öffnet den Reißverschluss seiner Jacke, zieht sie aus und wirft sie auf den Stuhl, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Plötzlich ist mir gar nicht mehr nach Lachen zumute.
Er zieht die Augenbrauen zusammen, greift nach dem Saum seines T-Shirts, und mit einer schnellen Bewegung streift er es sich über den Kopf. Auf seiner rechten Seite sind die Flammen der Ferox eintätowiert, sonst nichts. Er schlägt die Augen nieder.
» Was ist?«, frage ich besorgt. Er scheint sich unbehaglich zu fühlen.
» Ich habe noch nicht viele Menschen eingeladen, mich so anzusehen«, sagt er. » Genau genommen, niemanden.«
» Warum denn nicht?«, sage ich sanft. » Der Anblick lohnt sich.«
Langsam gehe ich um ihn herum. Auf seinem Rücken sind mehr Tattoos als blanke Haut. Die Symbole aller Fraktionen sind da– ganz oben am Rücken das Zeichen der Ferox, direkt darunter das Zeichen der Altruan und darunter, etwas kleiner, die Abzeichen der anderen Fraktionen: die Waage der Candor, das Auge der Ken, der Baum der Amite. Ich verstehe es ja, dass er sich das Symbol der Ferox, seiner neuen Heimat und Zuflucht, eintätowieren lässt und ebenso das Zeichen der Altruan, von denen er abstammt, so wie ich auch. Aber die anderen drei?
» Ich glaube, wir haben alle einen großen Fehler begangen«, sagt er leise. » Wir schätzen die Vorzüge anderer Fraktionen gering, nur damit unsere eigene in besserem Licht dasteht. Ich will das nicht. Ich will mutig, selbstlos, klug, freundlich und aufrichtig sein.« Er räuspert sich. » Freundlich zu sein, fällt mir allerdings noch schwer.«
» Niemand ist vollkommen«, flüstere ich. » So funktioniert das einfach nicht. Ein Übel wird vertrieben und durch ein anderes ersetzt.«
Ich habe Feigheit mit Grausamkeit vertauscht, Schwäche mit Wildheit.
Ich fahre das Zeichen der Altruan nach. » Wir müssen sie warnen. Und zwar bald.«
» Ich weiß«, sagt er. » Das werden wir.«
Er dreht sich zu mir um. Ich möchte ihn berühren, aber ich fürchte mich vor seiner Nacktheit und davor, mich selbst vor ihm zu entblößen.
» Hast du Angst, Tris?«
» Nein«, sage ich heiser. Ich räuspere mich. » Nicht vor dir. Ich fürchte mich eher davor… was ich selbst will.«
» Was willst du denn?« Er sieht mich erwartungsvoll an. » Willst du… mich?«
Ich nicke langsam.
Auch er nickt. Dann nimmt er behutsam meine Hand und legt sie auf seinen Bauch. Mit gesenktem Blick schiebt er sie hoch, von seinem Bauch über seine Brust bis zu seinem Hals. Seine warme, weiche Haut lässt meine Hände kribbeln. Mein Gesicht glüht und zugleich fröstelt es mich. Er sieht mich an.
» Eines Tages«, sagt er, » wenn du mich dann immer noch willst, können wir ja…« Er hält inne und räuspert sich. » Dann können wir…«
Ich umarme ihn lächelnd, bevor er den Satz zu Ende sprechen kann, und drücke meine Wange an seine Brust. Ich spüre seinen Herzschlag, er ist so schnell wie mein eigener.
» Fürchtest du dich vor mir, Tobias?«
» Schrecklich«, antwortet er heiter.
Ich küsse die Grübchen in seiner Halsbeuge.
» Vielleicht bist du jetzt nicht mehr in meiner Angstlandschaft«, murmle ich.
Er beugt sich zu mir und küsst mich vorsichtig.
» Dann können sie dich Six
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