Die Bestimmung - Toedliche Wahrheit - Band 2
fest. Wenn ich mich noch ein paar Zentimeter weiter vorbeuge, wird mich mein Gewicht nach unten ziehen. Ich könnte gar nichts dagegen machen.
Aber ich bringe es nicht fertig. Aus Liebe zu mir sind meine Eltern gestorben. Mein eigenes Leben ohne Grund zu beenden, wäre ein entsetzlicher Dank dafür, egal, was ich getan habe.
» Deine Schuld soll dich lehren, wie du dich beim nächsten Mal besser verhältst«, hätte mein Vater jetzt gesagt.
» Ich liebe dich. Ohne Wenn und Aber«, hätte meine Mutter jetzt gesagt.
Manchmal wünschte ich mir, ich könnte sie aus meinen Gedanken ausradieren, damit ich nicht mehr um sie trauern muss. Aber zugleich fürchte ich mich davor, wer ich ohne sie sein würde.
Vor meinen Augen verschwimmt alles. Ich klettere wieder in das Befragungszimmer zurück.
Als ich in den frühen Morgenstunden zu meiner Pritsche zurückkehre, ist Tobias schon wach. Er dreht sich um und geht zum Aufzug, und ich folge ihm, denn ich weiß, dass er das will. Wir stehen nebeneinander in der Aufzugkabine. In meinen Ohren klingelt es.
Der Aufzug fährt hinunter in den zweiten Stock und ich fange an zu zittern. Zuerst zittert nur meine Hand, dann breitet sich das Zittern aus, in meinen Arm und in meine Brust, bis mein ganzer Körper geschüttelt wird und ich mich nicht mehr dagegen wehren kann. Wir stellen uns zwischen zwei Aufzüge, auf ein Symbol der Candor, auf die unausgeglichene Waage. Das Zeichen, das Tobias sich auf seinen Rücken tätowieren ließ.
Lange Zeit sieht er mich gar nicht an. Er steht da, die Arme verschränkt, den Kopf gesenkt, bis ich es nicht mehr aushalte, bis ich schreien möchte. Ich müsste etwas sagen, aber ich weiß nicht was. Ich kann mich nicht entschuldigen, ich habe ja nur die Wahrheit gesagt, und aus der Wahrheit kann ich keine Lüge machen. Ich kann nichts zu meiner Entschuldigung sagen.
» Du hast mir nichts davon erzählt«, fängt er an. » Warum nicht?«
» Weil ich nicht…« Ich schüttle den Kopf. » Weil ich nicht wusste, wie.«
Er verzieht das Gesicht. » Das ist ziemlich einfach, Tris.«
» Oh, ja«, entgegne ich und nicke. » Furchtbar einfach. Ich muss nur zu dir gehen und sagen: › Ach übrigens, ich habe Will erschossen, und jetzt plagen mich entsetzliche Schuldgefühle; was gibt’s denn zum Frühstück?‹ Ganz einfach, nicht wahr? Nicht wahr?« Plötzlich wird mir alles zu viel, und ich schaffe es nicht länger, mich zusammenzureißen. Die Tränen schießen mir in die Augen und ich schreie los. » Wie wär’s, wenn du mal einen deiner besten Freunde umbringst, und mir dann sagst, wie das ist?«
Ich schlage die Hände vors Gesicht. Ich will nicht, dass er mich schon wieder weinen sieht.
Er berührt meine Schulter.
» Tris«, sagt er sanft. » Es tut mir leid. Ich möchte nicht so tun, als könnte ich es verstehen, ich will damit nur sagen…« Er kämpft einen Moment mit sich. » Ich wünschte, du würdest mir genug vertrauen, um mir so etwas zu erzählen.«
Ich vertraue dir, will ich sagen. Aber es stimmt nicht– ich habe nicht darauf vertraut, dass er mich trotz der schrecklichen Dinge, die ich getan habe, noch liebt. Ich traue das niemandem zu, aber dafür kann er nichts, das ist allein mein Problem.
» Immerhin habe ich von Caleb erfahren müssen, dass du fast in einem Wassertank ertrunken wärst«, sagt er vorwurfsvoll. » Findest du das nicht ein bisschen merkwürdig?«
Und dabei wollte ich mich gerade entschuldigen.
Ich wische mir mit den Fingerspitzen energisch die Tränen von den Wangen und funkle ihn an.
» Es gibt Dinge, die finde ich noch viel merkwürdiger«, sage ich und bemühe mich um einen leichten Ton. » Zum Beispiel, wenn man die Mutter seines Freundes, die man für tot gehalten hat, plötzlich quietschlebendig vor sich stehen sieht. Oder wenn man die Pläne des Freundes, sich mit den Fraktionslosen zu verbünden, zufällig mit anhört, aber selbst niemals etwas davon erfährt. Das finde ich wirklich merkwürdig.«
Er nimmt die Hand von meiner Schulter.
» Tu nicht so, als wäre es nur mein Problem«, sage ich. » Wenn ich dir nicht vertraue, dann nur, weil du mir auch nicht traust.«
» Ich dachte, die Dinge würden im Lauf der Zeit noch zur Sprache kommen«, antwortet er. » Muss ich dir denn alles sofort erzählen?«
Ich bin so enttäuscht, dass ich ein paar Sekunden lang kein Wort hervorbringe. Meine Wangen glühen.
» Lieber Himmel, Four!«, blaffe ich ihn an. » Du musst mir nicht alles sofort erzählen, ich
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