Die braune Rose
Nähsaal wurde es stiller … eine Reihe von Maschinen hatte aufgehört zu rattern. Harriet-Rose senkte den Kopf.
»Bitte, gehen Sie«, sagte sie stockend. »Sie machen mich hier unmöglich. Und … und ich will einfach nicht.«
Mit langen Schritten rannte Bert Schumacher aus dem Nähsaal. In seinem Glaskasten suchte der Meister in einem Notizbuch. Endlich fand er, was er suchte, und griff zum Telefon.
»Ja, hier Näherei«, sagte er, als die Verbindung hergestellt war. »Frau Koeberle? Ich muß Sie sprechen, unbedingt … ja, heute noch. Am besten gleich. Ich komme 'raus zur Kantine.«
»Was ist denn?« fragte Marianne. »Hat es irgend etwas in der Fabrik gegeben?«
»Ja, vor wenigen Minuten.« Der Meister räusperte sich. Verdammt, das eigene Hemd ist wichtiger als der Unterrock von anderen. Er hob seine Stimme und gab ihr einen amtlichen Klang, einen sogenannten Meisterton. »Ich glaube, wir müssen Ihre Harriet-Rose wieder entlassen.«
*
Um drei Uhr stand Harriet-Rose an der Neckarbrücke. Aber sie war nicht allein. Marianne wartete mit ihr. Sie standen an der steinernen Brüstung und sprachen nicht miteinander. Die Spaziergänger, die über die Brücke zum Schloßberg gingen, sahen sie erstaunt oder kritisch an. Man las ihre Gedanken in ihren Augen, und es waren wenig freundliche Gedanken. Es war ein stummes Spießrutenlaufen, eine Schaustellung dessen, was die Moral als Schande bezeichnet.
Auf der anderen Straßenseite hielt ein weißer Sportwagen. Die beiden Wartenden achteten nicht darauf. Sie hatten sich über die Brüstung gebeugt und sahen hinunter auf den Fluß. Sieben Paddelboote glitten unter der Brücke her. Aus einem Kofferradio scholl Tanzmusik zu ihnen herauf. Die Schloßruine glänzte in der Sonne wie mit Speck eingerieben.
Bert Schumacher blieb im Wagen sitzen und überlegte. Was wollte Frau Koeberle bei Harriet-Rose? Sie mochten sich zufällig getroffen haben; und es war am besten, noch zu warten, bis Frau Koeberle weiterging. Es war nicht nötig, daß der alte Schumacher durch den Mund seiner Chefsekretärin erfuhr, daß sein Sohn mit einem Mischlingsmädchen – Wieder ertappte sich Bert bei diesem widerlichen Gedanken. Es ist ein Mädchen, sagte er sich wieder, ein Mädchen wie alle anderen. Nur etwas brauner. Und schöner. Und faszinierender. Wenn auch die Leute stehenbleiben und nicht begreifen … vor fünfzehn Jahren waren sie auch stehengeblieben, aber nicht, um den Kopf zu schütteln, sondern um bei dem Vater dieses Mädchens Zigaretten, Kaffee und Tee zu betteln. Damals waren es keine ›Neger‹, sondern liebe Boys, die gutmütig ihre Zigarettenstangen hergaben.
Bert Schumacher stieg aus dem Wagen und kam über die Straße zur Brücke. Harriet-Rose, die sich zufällig umsah, sah ihn kommen. Sie faßte Marianne am Arm und drückte die Finger fest in die Haut.
»Da kommt er«, sagte sie leise.
Marianne Koeberle drehte sich schnell herum. Mit einem verlegenen Grinsen und linkischem Winken trat Bert an die Brüstung.
»Hallo Frau Koeberle! Sie gehen auch spazieren? Ein tolles Wetter heute. Ich dachte, Sie seien in Urlaub? Mein Vater sagte mir wenigstens gestern –«
»Ja, ich habe Urlaub. Ich verbringe ihn hier.«
»Guten Tag, Fräulein Harriet-Rose.« Berts Augen bettelten um Vergebung. Ich kann es nicht ändern, hieß dieser Blick, daß die Koeberle hier ist.
Harriet nickte ihm stumm zu. Ihre Kehle war zugeschnürt. Sie wartete auf die ersten Worte ihrer Mutter, die Bert wie einen Schlag empfinden mußte.
»Sie wollen auch zur Burg?« fragte Bert Schumacher, verwirrt durch die allgemeine Schweigsamkeit.
»Ja. Ich glaube.«
»Ach. Noch kein festes Ziel?«
»Nein … es wird sich gleich ergeben. Ich habe gewartet.«
»Ach! Gewartet?« Bert lachte gezwungen. »Unsere Koeberle wartet doch nicht etwa auf einen Kavalier.«
»Ich weiß noch nicht, ob er ein Kavalier ist. Man sollte es meinen.« Marianne trat zwischen Harriet-Rose und ihm. Eine lebende Mauer. »Sie wollten mit meiner Tochter ausgehen?«
»Tochter?« Bert Schumacher schüttelte verblüfft den Kopf. »Liebe Frau Koeberle …« Er versuchte, einen Blick Harriets zu erhaschen, aber sie hatte sich wieder abgewandt und starrte über die Brüstung in den Fluß. »Eigentlich wollte ich –«
»Sie wollten mit Rose ins Burgcafé.«
»Ja, aber –«, sagte Bert überrumpelt.
»Harriet-Rose ist meine Tochter.« Es kam ganz schlicht, dieses Geständnis. Aber in Bert Schumacher war es wie ein Hammerschlag, der die
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