Die Braut des Nil
ihr Glück zurückzugeben.«
»Das ist ein
edles Ideal.«
Kamose sah
sie zärtlich an.
»Wie lautet
deines, Nofret?«
»Noch weiter
in den geschlossenen Tempel vorzudringen. Ich kenne nur die ersten Räume. Ich
weiß, dass es einen riesigen Säulensaal im Tempel von Karnak gibt, in dem alle
Riten offenbart werden. Und es gibt noch andere Heiligtümer, weitere Lehren.«
»Der geschlossene Tempel«,
seufzte Kamose. »Da wollte ich auch gerne hinein.«
»Gibst du das etwa auch auf?
Warum bist du so verzweifelt? Wenn ich dich so sehe, hätte ich dich für mutiger
gehalten!«
Der Vorwurf
brachte Kamoses Blut in Wallung.
»Ich bin ein
Bauernsohn! Das ist der Grund, weshalb ich aufgeben muss!«
»Deine
Fantasie leitet dich in die Irre«, urteilte die junge Frau. »Der Irrtum liegt
in deinem Herzen, Kamose, nicht in der Wirklichkeit. Es gibt durchaus
Bauernsöhne, die Schreiber geworden sind. Die Weisen von Karnak interessieren
sich nur für die geistigen Eigenschaften der Menschen, nicht für ihre
gesellschaftliche Stellung.«
»Mögen die
Götter dafür sorgen, dass du Recht hast, Nofret! In diesem Falle werde ich es
schaffen.«
Das Ende des
Banketts rückte näher. Die Gespräche wurden vertraulicher. Die Musik war
verstummt. Bald würde der Morgen grauen und die neue Sonne geboren werden.
»Ich habe
Recht«, bekräftigte die junge Frau. »Vertraust du mir, Kamose?«
»Nein«,
entgegnete dieser.
Nofret schrak zurück. Sie war
verwundert, fast schockiert.
»Ich empfinde
dir gegenüber sehr viel mehr als nur Vertrauen«, erklärte Kamose mit
beeindruckendem Ernst. »Ich liebe dich, Nofret.«
15
Nofret und
Kamose brachen auf, als die ersten Sonnenstrahlen den Garten der Villa in rotes
Licht tauchten. Sie verließen das Anwesen durch eine Pforte, deren Wache
eingeschlafen war, und wandten sich Richtung Wüste.
Dort befand sich ein großes
Jagdareal, wohin Rensi seine Tochter gerne mitnahm, wenn er auf die Antilopen-
und Gazellenjagd ging.
Die beiden
jungen Leute liefen bis zu einem Palmenhain, in dessen Mitte ein Brunnen
gegraben worden war. Selbst zu Zeiten großer Hitze war es an diesem Ort
herrlich kühl.
Nofret kam
oft hierher, um fern vom Treiben der Villa, die von ihren Verehrern belagert
wurde, zu lesen und zu lernen. Es war angenehm, sich im Schatten der großen
Palmen aufzuhalten.
Sie saßen
nebeneinander und betrachteten die Wüste, die Felder, den Nil. Sie hatten das
Glück, im schönsten Land der Erde zu leben. Sie hatten das Glück, sich begegnet
zu sein.
Ein
Wanderfalke stieg zum Licht empor.
Nofret wandte
sich zu dem jungen Mann.
»Ich liebe
dich auch, Kamose.«
Das Fest war
ein voller Erfolg gewesen. Bevor die Gäste die prachtvolle Villa verließen und
an das östliche Ufer zurückkehrten, hatten sie alle Richter Rensi zu dem
beeindruckenden Empfang und der unvergleichlichen Schönheit seiner Tochter
gratuliert.
»Die
Heuchler!«, dachte Rensi. »Nicht einer hat es gewagt, etwas zu der unerwarteten
Anwesenheit des jungen Schreibers zu sagen. Bestimmt glauben sie, er sei eine
bedeutende Persönlichkeit, der nichts Originelleres eingefallen ist.«
Obwohl er
nicht geschlafen hatte, hatte der Richter sich an die Arbeit gemacht. Er musste
komplizierte Fälle behandeln und umfangreiche Angelegenheiten untersuchen.
Schon seit Jahren gönnte er sich keinen Ruhetag mehr. Gleich am Nachmittag
würde er sich ins Gericht begeben, um dort eine Versammlung von Richtern zu
leiten.
Kurz vor
Mittag empfing er Nofret und ihren Gast.
»Wir sind zum
Schlafen in den Palmenhain gegangen«, erklärte sie.
»Ich habe
euch aufbrechen sehen«, sagte Rensi. »Ich hielt es für richtig, euch gewähren
zu lassen, obwohl ich nicht mein Einverständnis gegeben hatte.«
Nofret küsste
ihren Vater.
»Warum so
streng, mein Vater? Wünschst du nicht mein Glück?«
Rensi wollte mit seiner
Tochter nicht diskutieren. Er kannte ihre gefürchtete Intelligenz nur zu gut.
»Wir sprechen
später noch mal darüber, ich habe nur wenig Zeit für den jungen Mann. Wer ist
er und was wünscht er?«
»Ich bin der
Sohn von Geru und Nedjemet. Das Kataster hat einen Fehler begangen, als es
deren Grund und Boden einem Soldaten namens Setek zuteilte. Ich fordere
Entschädigung.«
»Du bist
recht jung, um zu fordern«, urteilte Rensi, »und es handelt sich um wahrlich
schwere Anschuldigungen. Du bist von jugendlichem Ungestüm. Aber ein künftiger
Schreiber sollte lernen, seine Worte besser
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