Die Braut des Normannen
sie in die Arme und unterdrückte jeglichen Widerstand. Sie wurde mit einem Mal ganz schwach, lehnte sich an ihn und weinte rückhaltlos. Sie heulte ebenso laut und unkontrolliert wie der kleine Ulric, aber Royce unternahm nicht einmal den Versuch, sie zu besänftigen. Er legte das Kinn auf ihren Kopf und wartete schlicht ab, bis sie fertig war.
Seine Jacke war vollkommen durchnäßt, als Nichola endlich ruhiger wurde. Sie schluchzte noch ein paarmal an seiner Brust und war selbst entsetzt über ihr Betragen, aber es war ihr unmöglich gewesen, sich zurückzuhalten. Die unendliche Erleichterung, die sie empfunden hatte, als Royce heil und unversehrt ins Zimmer gekommen war, hatte sie derart überwältigt, daß sie nicht mehr fähig gewesen war, ihre Emotionen unter Kontrolle zu halten.
Sie zitterte vor Erschöpfung und Kälte. Royce schloß sie fester in die Arme. »Du solltest unter die Decke kriechen, bevor du zu Eis erstarrst«, flüsterte er rauh.
Sie ignorierte seinen Vorschlag. Nichola verstand selbst nicht, warum, aber sie brauchte noch eine Weile seine Nähe. »Du mußt mich ja für ein Baby halten«, sagte sie. »Ich benehme mich genau wie Ulric.«
»Vielleicht benimmst du dich wie er, aber du riechst viel besser.«
Nichola wußte, daß er sie neckte, als sie seinen belustigten Tonfall vernahm, und fand es reichlich seltsam, daß er nach diesen tragischen Ereignissen so reagierte. »Royce?«
»Ja?«
Eine volle Minute verstrich, ehe sie die Frage herausbrachte. »Bin ich eine Verräterin?«
»Nein.«
Die Dringlichkeit in dieser Verneinung erschreckte sie. »Sei nicht böse auf mich. Heute abend sind schon zu viele Leute in Rage geraten.«
Er umfaßte ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Ich bin nicht böse auf dich. Diese Frage macht mich wütend, das ist alles. Thurston hat dich eine Verräterin genannt, oder?«
Wieder schossen ihr die Tränen in die Augen. Royce war erstaunt, daß sie überhaupt noch welche übrig hatte. »Lieber Gott, Nichola, fang nicht wieder an zu weinen. Es ist ja jetzt vorbei, und Thurston ist gänzlich unverletzt.«
»Ich wußte, daß ihm nichts passiert«, rief sie aus. »Ich habe mich um dich gesorgt.«
Ihre Heftigkeit überraschte ihn, und er wußte nicht, ob er beleidigt sein sollte oder nicht. »Hast du so wenig Vertrauen in meine Fähigkeiten?«
Sie stach mit dem Zeigefinger in seine Brust. »Deine Fähigkeiten haben damit überhaupt nichts zu tun.«
»Ach nein?« fragte er vollkommen verwirrt.
»Nein, selbstverständlich nicht.«
»Nichola, was soll das heißen?«
»Thurston ist mein Bruder.«
»Dessen bin ich mir bewußt.«
»Ich kenne ihn besser als du.«
»Ja, natürlich.«
»Er hat eine Menge guter Eigenschaften.«
»Wage es nicht, ihn zu verteidigen.«
Sie machte Anstalten, sich wegzudrehen, aber Royce hielt sie fest. Er zwang sie erneut, ihn anzusehen, und strich ihr mit den Fingerspitzen über die Wange. »Das hat er getan, nicht wahr?« fragte er und betrachtete die Striemen in ihrem Gesicht mit zornigem Blick. »Wenn du jetzt sagst, daß er dich gar nicht schlagen wollte, dann reißt mir endgültig der Geduldsfaden.«
»Woher weißt du, daß Thurston mich geschlagen hat? Hat er es dir erzählt?«
»Man kann alle fünf Finger einer Männerhand auf deinem Gesicht sehen, daher weiß ich es, Nichola.«
Seine wutbebende Stimme jagte ihr Schauer über den Rücken. »Du wirst deine Geduld nicht verlieren müssen«, sagte sie. »Und genau das will ich dir ja die ganze Zeit erklären. Thurston ist schrecklich jähzornig. Schon als kleiner Junge hat er gehandelt, ohne vorher nachzudenken. Papa war oft verzweifelt, weil er ihm nicht beibringen konnte, sich zu beherrschen. Mein Bruder kämpft nicht wie ein Ehrenmann, Royce – du schon.«
»Und woher weißt du, wie ich kämpfe?« fragte er sanft.
»Ich weiß es einfach«, entgegnete sie. »Du hast hohe Ideale, und du hast gelernt, dein Temperament im Zaum zu halten – außerdem bist du ungewöhnlich geduldig. Während unserer Reise nach London, als ich immer wieder davonlief und du mich immer aufs neue eingefangen hast, wurdest du niemals zornig.« Nichola fühlte sich auf einmal sehr schwach und lehnte sich an Royce. »Der Krieg hat Thurston verändert – er ist voller Haß und hätte nicht fair gekämpft.«
»Und du glaubst, ich hätte es getan?«
»Natürlich.«
Er hauchte einen Kuß auf ihren Scheitel, dann hob er sie in seine Arme und trug sie zum Bett. Er schmunzelte ein wenig –
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