Die Bruderschaft des Feuers
Andolfo meinte eigentlich …«, mischte sich Odofredo ein.
Mondino schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. »Ich weiß, was er sagen wollte. Dieser Schwur bedeutet, dass man alle Möglichkeiten der Wissenschaft in den Dienst des Patienten stellen muss und keine aussparen darf. Und vielleicht besteht ja auch die Möglichkeit, dass Gott Erbarmen zeigt, wenn er unsere Bemühungen sieht, und seine Meinung ändert.«
Im menschenleeren Mithraeum standen genug Schemel, doch der Capitano del Popolo wagte es nicht, sich zu setzen. Mit hinter dem Rücken verschränkten Händen betrachtete er die Gewölbedecke, die wie ein Nachthimmel mit Sternen bemalt war, und versuchte, Klarheit in seine Gedanken zu bringen. Er wusste, was er zu sagen hatte, aber er konnte sich nicht entscheiden, wie er es am besten vortragen sollte. Er musste sehr vorsichtig sein, damit er sich nicht etwa selbst schadete.
Visdomini stand vor dem Altar mit dem Fresko, das Mithras darstellte, wie er gerade den Stier opferte, über ihm ein mit den Tierkreiszeichen bemalter Bogen. Als einziges Geräusch hörte man das Plätschern der Quelle, die aus einer Wand hervorquoll und sich in ein Steinbecken ergoss, ohne dass dieses jemals überlief, weil ein einfallsreiches System aus Löchern und Pfropfen die Wassermenge konstant hielt. Das Mithraeum, so hatte ihm der Pater mehrmals erklärt, stellte den Kosmos dar, es war ein Abbild der Welt, in der Mithras erschien und das Licht des Lebens und des Wissens brachte. Für Helligkeit sorgten die an der Wand befestigten Fackeln und Kerzen aus reinem Bienenwachs, die vor dem Altar brannten. Obwohl es keine Fenster im Raum gab, war die Luft nicht stickig.
Visdomini konnte nicht umhin, das Genie des Mannes zu bewundern, der vor so vielen Jahrhunderten in der Römerzeit diesen unterirdischen Tempel geschaffen hatte. Doch natürlich war ihm bewusst, dass sich die Erhabenheit einer Religion nicht an der Kunstfertigkeit ihrer Heiligtümer messen ließ. Sonst hätte er die Kirche Christi mit ihren unvergleichlichen Basiliken und Kathedralen nicht verlassen. Nein, was Visdomini am Mithraskult am meisten schätzte, war die unmittelbare Verbindung zu Gott, die Tatsache, dass er direkt mit ihm in Kontakt treten konnte, ohne die Hilfe von Priestern, die sich anmaßten, als Einzige den Willen des Herrn zu kennen.
Mit einer einzigen Ausnahme.
In seinen eigenen Visionen, die über ihn kamen, wenn er vom heiligen haoma getrunken hatte, war nie von Feuersbrünsten oder einer Läuterung durch Feuer die Rede gewesen. Doch der Pater, der den höchsten Grad der Eingeweihten innehatte, war darin unerbittlich: Genau dies sei der Wille des Gottes, und es gäbe keine andere Möglichkeit, als diesen zu achten. Er hatte ihnen erklärt, dass der Mithraskult älter sei als die christliche Religion und dass beide Glaubensrichtungen während des jahrhundertelangen Untergangs des Römischen Reiches weitverbreitet waren. Sie hatten damals untereinander um die Vorherrsfchaft gekämpft. Dann hatte das Christentum gesiegt und war danach eifrig bemüht gewesen, sämtliche Spuren des Mithraskultes auszulöschen, gleichzeitig hatte man jedoch dessen Hierarchien und heilige Rituale kopiert. Visdomini hatte zu seiner Bestürzung erfahren, dass der Titel »Papst« eine Abkürzung von pater patrum , der Anrede des Oberhauptes des Mithraskultes, war. Und die Christen waren noch weiter gegangen, sie hatten sogar das Fest zur Geburt von Mithras, das in der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember begangen wurde, durch das der Geburt Christi ersetzt.
Die Adepten hatten in jüngster Zeit mit eigenen Augen gesehen, wie die Kirche mit ketzerischen Lehren verfuhr, die sich hier und da im Abendland ausbreiteten, und hatten sich deshalb leicht vorstellen können, dass es dem Mithraskult genauso ergehen würde, der einmal so mächtig gewesen, aber jetzt vollständig in Vergessenheit geraten war.
Und obwohl Visdomini den Gedanken einer Läuterung durch das Feuer in gewisser Weise annehmen konnte, fand er es doch seltsam, dass Mithras während ebendieser Großen Läuterung zum einen die Seelen der Toten retten und zugleich Rache für seinen ihm geraubten Geburtstag nehmen wollte, indem er den Zeitpunkt für den Brand der Stadt auf diesen Tag festsetzte.
Kurzum, Visdomini verlor zwar nicht den Glauben an seinen neuen Gott, aber er begann doch an dem Pater zu zweifeln.
Er hörte das schlurfende Geräusch von Sandalen auf dem Steinfußboden, doch bevor er sich
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