Die Bücher und das Paradies
Yates bemerkt9, gehörte es
zum gewöhnlichen Verhalten rosenkreuzerischer Autoren
zu behaupten, nicht nur sie selbst seien keine Rosen-
kreuzer, sondern sie seien auch noch niemals einem
einzigen Mitglied der Bruderschaft begegnet.
Jedenfalls verbrachten Johann Valentin Andreae und alle
seine Freunde des Tübinger Kreises, die sofort verdächtigt
wurden, die Autoren der Manifeste zu sein, ihr weiteres
Leben damit, die Sache entweder zu leugnen oder sie als
einen literarischen Scherz, eine Art Studentenulk abzutun.
Im übrigen gibt es nicht nur keine historischen Beweise
für die Existenz der Rosenkreuzer, sondern es kann auch
per definitionem gar keine geben. Noch heute steht in den
offiziellen Dokumenten des AMORC ( Anticus and
Mysticus Ordo Rosae Crucis , dessen reich mit ägyptischer Ikonographie geschmückten Tempel man im kalifor-9 Aufklärung im Zeichen des Rosenkreuzes , Stuttgart, Klett, 1975.
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nischen San José besichtigen kann), daß die ursprüng-
lichen Dokumente, die den Orden legitimieren, zwar
vorhanden seien, aber aus verständlichen Gründen geheim
und in unzugänglichen Archiven eingeschlossen bleiben
müßten.
Doch uns interessieren hier weniger die heutigen
Rosenkreuzer, die Folklore sind, sondern die historischen.
Seit dem Erscheinen der beiden Manifeste gab es immer
wieder Streitschriften gegen sie, in denen die Bruderschaft
angegriffen und mit diversen Vorwürfen überhäuft wurde,
besonders dem der Fälschung und der Scharlatanerie. 1623
tauchten in Paris anonyme Plakate auf, die verkündeten,
daß die Rosenkreuzer ihren Sitz in die Stadt verlegt hätten,
und diese Mitteilung entfesselte wütende Polemiken
seitens katholischer ebenso wie libertärer Kreise; das
Gerücht, die Rosenkreuzer seien Satansanbeter, wurde in
einer anonymen Schrift namens Effroyables pactions faites
entre le diable et lesprétendus invisibles von 1623
verbreitet. Sogar Descartes, der während einer Deutsch-
landreise angeblich versucht hatte, sich mit ihnen in
Verbindung zu setzen, wurde bei seiner Rückkehr nach
Paris verdächtigt, ein Mitglied der Bruderschaft zu sein,
und rettete sich mit einem Meisterstreich: Da die Rosen-
kreuzer allgemein als unsichtbar galten, ließ er sich bei
möglichst vielen öffentlichen Gelegenheiten sehen und
entkräftete so das Gerede über ihn, wie Baillet in seiner
Vie de Monsieur Descartes erzählt. Ein gewisser Heinrich Neuhaus veröffentlichte zuerst in Danzig auf lateinisch
und dann 1623 in Paris auf französisch ein Advertissement
pieux et utile des frères de la Rose-Croix , in dem er sich fragte, ob es die Rosenkreuzer gebe, wer sie seien, woher
sie ihren Namen genommen hätten und zu welchem
Zweck sie ihre Existenz öffentlich bekanntgemacht hätten;
und er schließt mit dem außerordentlichen Argument:
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»Gerade daß sie ihre Namen wechseln und verbergen, daß
sie ihr Alter verschleiern, daß sie nach eigenem Bekunden
daherkommen, ohne sich kenntlich zu machen, erlaubt
keinem Logiker zu verneinen, daß sie notwendig in natura
existieren müssen.«
Wie man sieht, genügte ein beliebiger Aufruf zu einer
spirituellen Reform der Menschheit, um die paradoxesten
Reaktionen auszulösen, als hätten alle auf ein ent-
scheidendes Ereignis gewartet.
Jorge Luis Borges erzählt in »Tlön, Uqbar, Orbis
Tertius« von einem unwahrscheinlichen Land, das in einer
unauffindbaren Enzyklopädie beschrieben worden sei. Bei
den Recherchen über dieses Land ergibt sich durch andere
vage Indizien, ausgehend von Texten, die einander gegen-
seitig plagiieren, daß es sich bei dem gesuchten Land in
Wirklichkeit um einen ganzen Planeten handelt, »mit
seinen Bauwerken und seinen Kriegen, mit dem Schrecken
seiner Mythologien und dem Gemurmel seiner Sprachen,
mit seinen Kaisern und seinen Meeren, mit seinen
Mineralien und seinen Vögeln und seinen Fischen, mit
seiner Algebra und seinem Feuer, mit seinen theolo-
gischen und metaphysischen Kontroversen«. Dieses Ge-
bilde ist »das Werk einer Geheimgesellschaft von Astro-
nomen, Biologen, Ingenieuren, Metaphysikern, Dichtern,
Chemikern, Algebraikern, Moralisten, Malern und Geo-
metern … unter der Leitung eines im Dunkel gebliebenen
Genies«.
Wir haben es mit einer typischen Borges-Erfindung zu
tun: der Erfindung einer Erfindung. Aber Borges-Leser
wissen, daß er niemals etwas erfunden hat – noch seine
paradoxesten Geschichten ergeben sich aus einer
Neulektüre der
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