Die Buße - Gardiner, M: Buße - The Liar's Lullaby
weichgezeichneten Foto, auf dem sie aussah, als wäre sie ungefähr siebzehn und bereit, den Treueeid als Pfadfinderin zu schwören.
Passend. Eine Kuh, die anderen Kühen zumuht.
Still, mein Schatz. Verrat es nicht. Es ist gefährlich.
Fast zweihunderttausend Menschen hatten ihre digitale Unterschrift im Kondolenzbuch der Site hinterlassen. Tausende hatten in Kommentaren ihr Mitgefühl bekundet. Und soeben war eine neue Information hinzugefügt worden: die Bestätigung, dass die Trauerfeier in der Grace Cathedral stattfinden sollte.
Die Website spielte sich auf, als wäre mit der Trauerfeier eine nicht mehr zu überbietende Gedenkveranstaltung geplant. Doch so war es nicht. Es war nur eine jämmerliche Zugabe zu Tasias Abgang von der Bühne im Stadion. Die Seite bot keine Liste von Prominenten, die ihren Besuch angekündigt hatten, aber in einem kleinen Fenster fand man Links zu den neuesten Nachrichten - also kreischende Klatschkolumnen über die tote Heldin -, und darin tauchten all die berühmten, glamourösen und furchtbaren Leute auf, die sich in Designerschwarz werfen, Gesangbücher schwenken und Krokodilstränen über die Kuh in der Kiste vergießen würden.
Der Chef von Tasias Plattenfirma. Der Bürgermeister. Die Gewinner von zusammen fünfundzwanzig Grammys.
Und der Präsident der Vereinigten Staaten.
An der Tischplatte klebten Muffin-Krümel.NMP wischte sie weg.
Der Präsident höchstpersönlich. Und Searle Lecroix’ Auftritt war gesichert. »Gesichert« - als wäre er der Star bei diesem Medienereignis. Er hatte vor, »Amazing Grace« und ein ganz besonderes Lied zu Tasias Andenken mit dem Titel »Angel, Flown« zum Besten zu geben.
Engel. Als wäre sie einer von den Seraphim.
Und der Präsident wollte sich in die erste Reihe setzen und sich diesen Müll anhören. NMP konnte es nicht mehr ertragen.
Eigentlich hatte er gehofft, auf diesem Ausflug Beruhigendes zu erfahren. Mein Schatz, still, es ist gefährlich, glaub mir. Ich liebe dich. Aber NMP musste einsehen, dass ihm die letzte Schlacht bevorstand. Alle Kräfte hatten sich gegen Archangel X verschworen. Er war verraten worden, sie hatten ihm ein Bajonett in den Unterleib gerammt. Doch er konnte noch immer sprechen.
NMP streifte Krümel von der Tastatur. Loggte sich ein und fing an zu tippen.
Jo rannte die Treppe zu der roten Backsteinvilla hinauf. Ferd wartete schon in der Tür.
»Wo ist er?«
»Gerade online gegangen.«
Im Wohnzimmer stand Ferds Notebook auf dem Couchtisch. Durch die hohen Fenster schien die Nachmittagssonne.
Jo umkurvte Bücher, Kisten und Sixpacks Root-Beer, die auf dem Boden aufgebaut waren. Der kleine Roboter war bei dem Versuch gescheitert, diesen Hindernisparcours zu durchqueren, und mit einem Haufen Actionfiguren aus World of Warcraft kollidiert.
»Wo befindet sich Archangel X momentan in der Realität?«, fragte Jo.
»Hier in der Stadt.« Ferd ließ sich auf dem Sofa nieder. Sein Bildschirm war mit langen Datenspalten bedeckt. »Die E-Mails, die du mir geschickt hast - ich hab seinen X-Originating-Header überprüft und ein Traceroute gemacht, um die Quelle zu finden.«
»Bist du völlig sicher?«
»Es ist nicht GPS, aber trotzdem ziemlich zuverlässig.«
Sie starrte die rätselhaften Datenstränge an. »Wo ist er?«
»Im Bankenviertel. Ein Starbucks. Ich …«
»Du hast die Adresse?«
»Kearny Street.«
»Dann los. Nimm das Notebook mit.«
»Nicht nötig. E-Mails kann ich auch mit meinem Telefon empfangen. Aber ich muss noch schnell Mr. Peebles in seine Kiste bringen.«
Er wich dem Roboter aus und lief durch den Flur. Für einen Mann, der sich ihres Wissens zum letzten Mal in der Grundschule körperlich betätigt hatte, war er erstaunlich schnell auf den Beinen.
Fünf Sekunden später sprintete er die Treppe hinauf, den Affen unter den Arm geklemmt wie einen Fußball. »Ich darf ihn nicht mit Ahnuld allein lassen. Das Ultraschall-Navigatonssystem treibt ihn in den Wahnsinn.«
Er hastete wieder herunter. »Und du meinst, dieser Archangel X ist wirklich ein gefährlicher Stalker?«
Sie folgte ihm hinaus. »Auf jeden Fall mach ich mir Sorgen. Wir sollten ihn unbedingt aufspüren. Wir fahren mit meinem Pick-up.«
»Was ist mit der Polizei?«
Jo zückte ihr Handy und wählte Amy Tangs Nummer. »Schon dabei.«
NMP tippte wie besessen. An einem Tisch erhoben sich schnatternde Sekretärinnen, stießen ihre Stühle scharrend über Steinplatten, drängten sich mit wackelnden Handtaschen und
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