Die Buße - Gardiner, M: Buße - The Liar's Lullaby
Sonnenlicht.
Nach zwei Blocks bergauf atmete Jo schwer und verlor allmählich die Hoffnung. Archangel X war im Gedränge der Innenstadt verschwunden. »Ich hab sie aus den Augen verloren.«
»Hab ihre Beschreibung an alle Streifenwagen durchgegeben«, antwortete Tang.
An der nächsten Ecke zögerte Jo. Welche Richtung?
»Was hat sie vor?«
»Was Tödliches.«
»Sie will sich umbringen?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht. Vielleicht auch noch jemand anders dazu.«
»Ich bin auf der Market Street, Richtung Norden.«
Jo hatte einen Einfall. »Kannst du zum Union Square kommen?«
»Klar. Warum?«
Jo rannte wieder los. »Ich glaube, sie ist hinter …«
»O Mann, du meinst doch nicht etwa den Präsidenten!«
Jo klemmte sich die Umhängetasche fest unter den Arm und steuerte durch die Wolkenkratzerschluchten auf das St. Francis Hotel zu. »Nein, ich glaube, sie hat es auf Searle Lecroix abgesehen.«
Im Fernsehstudio stocherte Edie Wilson mit der Gabel in einem Salat herum und schob schwarze Oliven und Karottenstreifen beiseite. Mit einer Plastikgabel - sie war schließlich kein Snob. Wenn es darauf ankam, konnte sie ordentlich zur Sache gehen. Auch wenn sie es Leuten wie diesem mageren jungen Nachrichtenleiter Tranh ständig beweisen musste. Einige von denen glaubten, dass sie einfach nur Glück gehabt
hatte, bloß weil sie mit einer Naturkatastrophe den Durchbruch geschafft hatte. Sie dachten, dass sie menschliches Leid ausgenutzt hatte, um zum leuchtenden Star aufzusteigen.
Aber selbst wenn, sie hatte keinen Grund, sich für irgendetwas zu entschuldigen. »Zwanzig Stunden des Grauens in Topeka« war von Anfang bis Ende ihre Story, denn sie hatte als einzige Reporterin den Mut und das Glück gehabt, an diesem Tag in der Nähe der massiven Superzelle zu sein. Sie war einem Team von Sturmjägern der Oklahoma University gefolgt. Ja, sie hatte sich verirrt, und ja, zuletzt hatte sie sich in einer Mülltonne vor dem Tornado verkrochen. Dafür musste sie sich nicht schämen. Verdammt, sie hatte die Mülltonne sogar in der Werbung für ihre Sendung erwähnt. Sie hatte den Mumm gehabt, durch einen Schwarm von Wirbelstürmen zu fahren, um über das Geschehen zu berichten. Sechsundneunzig Tote, und die Nation hatte es von ihr erfahren. Sie hatte die alte Frau in den Arm genommen, während die Feuerwehrleute in dem zerstörten Wohnwagen nach ihrem Mann suchten. Das sollte ihr erst mal einer nachmachen.
Nein, Edie Wilson, die tapferste Frau im Nachrichtengewerbe, entschuldigte sich bei niemandem.
Als ihr Telefon klingelte, ließ sie den Praktikanten hingehen. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, um sicher zu sein, dass sie makellos glänzten.
Dann nahm sie den Anruf entgegen. »Ich will Informationen.«
»Der Geländewagen ist auf einen Gabriel Quintana zugelassen.«
Sie notierte Namen und Adresse. »Find alles über den
Typen raus. Vor allem über seine Verbindung zu Dr. Jo Beckett.«
Sie schaltete das Handy ab und reichte dem Praktikanten den Salatteller. »Wo ist Andy?«
Wenn ihr Kameramann gerade beim Mittagessen war, dann sollte er es eben stehenlassen. Hier ging es immerhin um investigativen Journalismus.
Durch das Gedränge von Fußgängern bahnte sich Jo einen Weg zum Union Square. Immer noch klebte das Handy an ihrem Ohr.
»In einigen E-Mails hat Archangel X geschrieben, dass sich Tasia alle Männer nimmt. Aber ausdrücklich erwähnt hat sie vor allem Searle Lecroix.«
»Du meinst, er ist in Gefahr?«
»Ruf einfach im St. Francis an. Er soll aufpassen.«
Als sie an der Ecke Grant Street auf den Fußgängerübergang trat, hörte sie das Quäken einer Hupe. Sie sprang zurück, und ein gelbes Taxi brauste vorbei.
»Ich ruf zurück.« Tang verabschiedete sich.
Jo wartete, bis der Verkehr nachließ. Der Wind wickelte ihr das Haar ums Gesicht. War Lecroix wirklich in Gefahr? Sie konnte es sich nicht leisten, diese Frage auf die leichte Schulter zu nehmen.
Der Türsteher vor dem St. Francis tippte sich an die Mütze und öffnete ihr. Petty kratzte sich in der Achsel und wich seinem Blick aus.
Tasia McFarland war an sich schon schlimm genug gewesen. Ein Gully, ein Dreckloch, eine menschliche Latrine.
Aber dass sie sich auch noch Searle gekrallt und ihn manipuliert hatte, obwohl Petty auf ihn wartete - das war die reine Hölle.
Der Anblick der Eingangshalle ließ sie erstarren. Noch nie hatte sie solchen Luxus gesehen. Sie strich das neue Shirt glatt und versuchte, das krause Haar mit
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