Die Chroniken von Blarnia
Habgier, die ohnehin nie richtig schlief, war geweckt. »Dann sind Sie bestimmt stinkreich, was?«
»Ich versteh nicht, was du meinst.«
Volltreffer, dachte Ed. »Genug geschoben«, verkündete er und forderte dann den Zwerg auf: »Rutsch rüber, de Sade.«
Der Zwerg, ein Menschenfreund (oder zumindest Rentierfreund), war zutiefst getroffen. »Es ist nicht so, wie du denkst«, flüsterte er, aber Ed hörte nicht.
Er setzte sich der Königin gegenüber auf den Schlitten. »Blarnia? Ist das der Name dieses Drecklochs?« Ed gab sich extra mackerhaft, denn attraktive Frauen machten ihn immer ziemlich nervös. Die Frau auf dem Schlitten mochte zwar nicht jedermanns Tasse Talg sein, doch Ed gefiel sie. Das war mal eine Frau, in der man sich verlieren konnte! Und obendrein war sie vermögend! Nur wohlhabende Menschen leugnen ihren Reichtum, dachte Ed. Hätte der Junge ein bisschen mehr in der Nachttischschublade seines Vaters gestöbert, wäre ihm vielleicht aufgegangen, dass er einer Familie von »Schwabbelfetischisten« mit einer Vorliebe für korpulente Frauen entstammte. Seit Generationen gingen die männlichen Perversies aus dem Fegefeuer der Pubertät mit dem Verlangen hervor, sich in den üppigen Falten schlaffen Fleisches zu vergraben. Er beugte sich vor und legte der Königin die Hand aufs Knie. »Wenn ich Ihnen sagen würde, dass Sie einen tollen Körper haben...«
»... würde ich sagen, du lügst«, blaffte die Königin und verschlang einen Muffin in einem Stück. Trotz ihrer unermesslichen Macht fühlte sie sich nicht recht wohl in ihrer Haut. Mangelnde Selbstachtung war die wahre Ursache ihrer Boshaftigkeit. Sie hatte es schon immer äußerst schwer gehabt, Freundinnen zu finden. In der Schule war sie vor lauter Verzweiflung dem Club der Bösen beigetreten, und so war die Sache ins Rollen gekommen.
Ihr Selbsthass zeigte sich auch im Zustand ihres Schlittens: Das Gefährt war voll von klebrigen Abfällen - Schokoladenpapier, platt gesessenen Pommes frites und Trinkbechern von der Größe eines Kleinkindes, aus denen schal gewordene Limonade sickerte. Während er seine Füße vom Boden zu lösen versuchte, nahm Ed die Königin genauer unter die Lupe. Mit ihren weißen Pelzen und ihrer noch weißeren Haut sah sie aus wie ein Riesenklacks Kartoffelbrei mit Krone. Ed begann ihre Kinne zu zählen. Bei zehn gab er’s auf. Das war die Frau, auf die er sein ganzes Leben lang gewartet hatte! Jedes Mal, wenn er sie ansah, brannten bei ihm alle Sicherungen durch. Dies war der Moment, in dem der arme Ed zum Mann wurde - was: man daran erkannte, dass er in Gegenwart einer Frau, die er attraktiv fand, keinen geraden Satz mehr herausbrachte.
Vielleicht sollte ich mich von ihrem Mund fern halten, dachte Ed. Ich gucke lieber runter zu ihrem... BÜÜÜÜSTENHALTER! Die Synapsen des bemitleidenswerten Jungen spielten verrückt, sämtliche Sicherungen flogen raus, und er musste höllisch aufpassen, dass er nicht anfing, hemmungslos! zu sabbern.
Die Königin pikste ihn mit ihrer goldenen Gabel. »Was ist denn los mit dir?«
»Arr...«, sagte Ed. Was sollte er nur tun? Er musste improvisieren und gebärdete sich einfach wie die männliche Hauptfigur aus einer der Seifenopern, die Sue pausenlos guckte. »Nur die Ruhe, Baby. Ich bin ein Mann, und du bist eine Frau...«
»Frau?«, schnaubte die Königin. »Machst du Witze?«
Ed zählte eins und eins zusammen und zog ruckartig seine Hand zurück.
Da fuhr der Königin etwas durch den Sinn. »Moment mal... Hast du gesagt, du wärst ein Mann?«
Ed wurde rot. »Äh, na ja, ich bin erst zehn.« Das klingt ja furchtbar, dachte er, daher fugte er hinzu: »Aber ich werd bald elf - und bin sehr reif für mein Alter.« Waren sieben Körperhaare viel oder wenig? Ed beschloss, lieber nicht darauf einzugehen.
»Ein Atomssohn«, sinnierte die Königin. »Ich bin noch nie einem begegnet. Du bist viel größer, als ich dachte.«
Ed ließ seine schmächtigen Muskeln spielen, um sich ins rechte Licht zu setzen.
»... genau das Richtige fürs Mittagessen.« Die Frau zog eine Serviette aus ihrem Ärmel und band sie sich um den Hals. Dann holte sie eine Pfeffermühle aus einem Geheimschrank und würzte Eds Kopf.
Ich glaube, sie steht auf mich, dachte Ed. Um sich von dem Gedanken an das abzulenken, was scheinbar unmittelbar bevorstand, versuchte er Konversation zu machen. »Soll ich Ihnen was sagen? Ich bin durch einen Kleiderschrank hergekommen! Ich war auf der Suche nach meiner verzogenen
Weitere Kostenlose Bücher