Die Cromwell Chroniken - Schicksals Pfade (German Edition)
ausgedrückt. Nie war sie respektlos Älteren gegenüber gewesen.
Aber jetzt reicht’s! Genug ist genug!
Ärgerlich erhob sie sich.
„Linda“, kam es geduldig von Rosina.
„Was?“, antwortete diese ungewohnt aggressiv.
Sie atmete geräuschvoll aus und murmelte eine Entschuldigung.
„Schon gut“, entgegnete die alte Dame ruhig.
„Es ist nur so, ich kenne mich selbst nicht mehr. Natürlich war mir klar, dass ich weniger kann als andere, aber … es macht mich einfach … es frustriert mich, wenn ich mich ausschließlich mit meinen Schwächen befasse!“
„Tust du das denn?“
„Ja. Ich kann nicht sehen, daran lässt sich nichts ändern. Was bringt es, ständig darauf herumzureiten?“
„Du findest, dass ich darauf herumreite ?“
Die junge Seherin hatte es nicht so offen ansprechen wollen, doch wenn das Thema schon mal auf dem Tisch war …
„Ja, das finde ich. Und ich verstehe nicht, weshalb.“
„Wenn ich dir verspreche, es dir zu erklären, setzt du dich dann wieder hin?“, fragte die Prüferin besonnen.
Linda verzog das Gesicht und nahm Platz. Ihr Wutanfall war ihr peinlich.
„Sehr schön. Dann lass dir bitte von mir versichern: Wir konzentrieren uns hier ausschließlich auf deine Stärken und nicht auf deine Schwäche.“
„Ich komme mir aber sehr unfähig vor“, gestand die junge Frau.
„Das mag gut sein, aber es ist doch gerade deine Gabe, die es dir erlaubt, das wahrzunehmen, was anderen oft verborgen bleibt“, erwiderte die Prüferin.
„Wenn ich mir Auren ansehe, dann ja. Aber das soll ich ja gar nicht. Ich soll irgendwelche Sachen beschreiben. Dinge, die jeder außer mir sehen kann.“
„Da liegt ein Missverständnis vor. Ich habe dich gebeten, sie mir zu beschreiben. Ich bat dich nie, sie zu sehen .“
Linda runzelte die Stirn.
„Wenn ich sie nicht sehe, wie soll ich sie dann beschreiben?“
„Aber Kind, du bist blind, wie sollst du sie denn sehen ?“
Die Studentin schwieg. Sie konnte sich nur wundern.
Das sage ich doch die ganze Zeit!
„Nein, nein, du sollst sie nicht sehen. Ich möchte, dass du ihre Struktur mit deinem Geist erfasst.“
„Aber wie denn?“, erklang es hoffnungslos von der Probandin. „Das meiste ist neu. Ich kann nur alte Sachen durch meine Gabe wahrnehmen. An den neuen Dingen haftet kein Essenzrest.“
„Du kannst also keine neuen Sachen wahrnehmen?“
„Nein, kann ich nicht.“
„Warum konzentrierst du dich dann nicht auf das, was du wahrnehmen kannst?“, bemerkte die alte Dame.
„Und wie?“
„Du sagst, du kannst einen neuen Gegenstand nicht wahrnehmen?“
„Ja, richtig.“
„Unter gar keinen Umständen?“
„Nein?“
„Warum konzentrierst du dich dann nicht auf das, was du wahrnehmen kannst?“
„Auf deine Aura?“
„Nein. Ach, Kind, ist das denn so schwer?“
„Offenbar“, murrte Linda.
„Du kannst den Gegenstand nicht wahrnehmen? Na schön, dann konzentriere dich doch einfach auf den Tisch, auf dem er steht.“
Linda hielt inne.
„Ist der Tisch denn alt?“, fragte sie unsicher.
„Du wirst es nicht herausfinden, wenn du es nicht einfach versuchst“, kam die geduldige Antwort.
Die blinde Seherin lächelte.
„Ja, das hat was.“
Sie senkte den Blick und veränderte das Ziel ihrer Konzentration. Diesmal fokussierte sie nicht den Gegenstand, sondern die Umrisse des Tisches.
Rosina hatte ihr keine falsche Hoffnung gemacht, der Tisch war tatsächlich schon einige Generationen alt. Deutlich registrierte sie die Form der Tischbeine, der Platte – und dass ein Teil von Letzterer verdeckt wurde. Sie bemühte sich noch mehr, die genauen Konturen dieses … Schattens … zu erkennen.
Ein Kreis … oder so etwas Ähnliches. Hm, nein … kein richtiger Kreis, es geht an den Seiten hoch.
Und schließlich wusste sie, was es war.
„Ist das ein Teller?“
„Ja, das möchte ich meinen. Herzlichen Glückwunsch zu deinem ersten Erfolg.“
Vom freudigen Tonfall der Prüferin angesteckt, hoben sich Lindas Mundwinkel.
Ich habe einen Teller gesehen , schoss es ihr durch den Kopf. Einen nagelneuen Teller!
Cat schlug ihre Augen auf und fand sich erneut im antiken Griechenland wieder.
Unglaublich, wie schön die Umgebung ist , dachte sie bewundernd.
Sie war an einem anderen Ort als am Vortag. Ihre griechische Begleiterin hatte sie nach Delphi gebracht.
Wir sind kurz vor der Stadt.
In der Ferne sah sie die ersten Häuser.
Gesthimaní stand direkt neben ihr und grüßte sie mit einem Lächeln. „Willkommen
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