Die Daemonenseherin
gesprochen?«
»Nicht viel.« Logan dachte an die Unterhaltung zurück, die sie gestern im Pub geführt hatten, ein Gespräch, bei dem immer wieder all die ausgesprochenen und unausgesprochenen Probleme aufgeflackert waren. Dann war er Jackie begegnet und hatte etwas begriffen, das ihm bisher nicht einmal bewusst gewesen war. »Ich weiß jetzt, dass das Leben meines Bruders ohne die Gemeinschaft vollkommen anders verlaufen wäre – weniger erfolgreich und vermutlich auch um ein ganzes Stück weniger glücklich.« Dass seine Eltern so sehr unter dem Verlust ihres Ältesten gelitten hatten, war womöglich wirklich ein seltener Fall. Durchaus wahrscheinlicher erschien es ihm, dass die meisten Eltern froh waren, wenn sie das andersartige Kind mit seinen beängstigenden Fähigkeiten nicht länger um sich haben mussten. »Ich denke, es ist nicht so einfach, ihm – oder den Sehern im Allgemeinen – die Schuld an allem zuzuschreiben. Die Bösen sind diejenigen, die diese beschissenen Experimente durchführen und sie decken – aber solche Leute gibt es in der menschlichen Gesellschaft ebenso.«
»Wir sind auch Menschen.«
»Das weiß ich doch.« Er beugte den Kopf zu ihr herunter und küsste sie, erst auf die Stirn, dann auf die Lippen. »Wie soll ich uns dann nennen? Gewöhnliche? Normalos?« So wie Jackie es getan hatte.
»So nennen wir euch zumindest«, plötzlich lächelte sie, »auch wenn du alles andere als normal oder gewöhnlich bist.«
»Ach ja?«, grinste er und zog sie näher heran. »Darüber würde ich gerne mehr hören.«
Doch statt weiterzusprechen, küsste sie ihn. Es fiel Logan schwer, es bei einem Kuss zu belassen, doch es gab noch ein Thema, das sie bisher vermieden hatten.
»Wie kam es dazu?«, fragte er leise.
Mit einer Miene, so ausdruckslos wie eine Maske, erzählte Alessa ihm von den Experimenten. Je mehr er zu hören bekam, desto größer wurde sein Entsetzen. Dabei hatte es so harmlos begonnen, nichts weiter als ein paar Tests, die die Ausprägung ihrer Fähigkeiten dokumentieren sollten. Dass die Forscher Alessa und die anderen Probanden so lange über die wahre Natur ihrer Versuche im Unklaren gelassen hatten, weckte den Wunsch in ihm, jedem einzelnen von ihnen die Zähne einzuschlagen – für den Anfang. Diesen Menschen war das Recht genommen worden, selbst über sich zu bestimmen. Hätte Alessa nicht zufällig Mikeys Tod mit angesehen und das darauf folgende Gespräch belauscht, wären sie alle ahnungslos in den Tod gegangen.
Die Skrupellosigkeit dieser Wissenschaftler erschreckte ihn. Natürlich brauchte es Nachdruck und Durchsetzungsvermögen, um Experimente durchzuführen, und manchmal musste man sich auch gegen Widerstände stemmen, andernfalls hätte es viele wissenschaftliche Errungenschaften, die heute so viel Gutes bewirkten, niemals gegeben. Eine Versuchsreihe fortzusetzen, bei deren erster Stufe es bereits zu Todesfällen gekommen war, ohne sicherzustellen, dass etwas Ähnliches nicht noch einmal vorkommen konnte, war jedoch unverantwortlich.
Diese Doktor Burke hatte das Leben ihrer Probanden willentlich und wissentlich aufs Spiel gesetzt, in dem vollen Bewusstsein, dass ein Großteil von ihnen die Experimente nicht überleben würde. Lediglich dafür, dass die Öffentlichkeit vor den Dämonen geschützt war, hatte sie gesorgt, indem sie ihren Versuchskaninchen verboten hatte das Labor zu verlassen.
»Als ich zu mir kam, war es um mich herum dunkel.« Alessas Augen waren starr auf seine Brust gerichtet. »Meine Schulter schmerzte und mir war furchtbar kalt. Ich lag in einem Isolationstank, in völliger Dunkelheit.«
»Der Stahltank ist auch der Grund dafür, dass dir ständig so kalt ist, oder?«
Alessa nickte. »Sie haben uns nicht mehr gelassen als einen Krankenhauskittel. Keine Decke, nicht einmal Strümpfe – und das über Monate hinweg. Es grenzt an ein Wunder, dass ich nicht an einer Lungenentzündung gestorben bin.«
Logan vermutete eher, dass es auf den Medikamentencocktail zurückzuführen war, den die Forscher laut Alessas Erzählung ihren Probanden verabreicht hatten, um sie bei Gesundheit zu halten. Selbst jetzt zitterte sie in seinen Armen, wobei es diesmal wohl eher an den Erinnerungen als an der Kälte lag, denn er hielt sie noch immer fest umschlungen und ließ sie seine Wärme spüren.
Dass man Alessa und die anderen zwischen den Versuchen weggesperrt und oft sogar in künstlichen Schlaf versetzt hatte, machte ihn nur noch wütender. Die
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