Die Diagnosefalle: Wie Gesunde zu Kranken erklärt werden (German Edition)
suchen, um vorherzusagen, wie hoch das Risiko für bestimmte Krankheiten ist. Inzwischen untersuchen Mediziner aber auch mit großer Begeisterung das Genom einzelner Karzinome – nicht das Genom des Patienten, sondern das Genom seines Karzinoms. Ein Krebs hat nämlich sein eigenes Genom, das sich von dem des Kranken unterscheidet. Denken Sie daran, dass genetische Mutationen Krebs auslösen.
Manche Leute glauben, dass wir alle genetischen Informationen in einzelnen Karzinomen entschlüsseln und eines Tages entscheiden können, welche Karzinome aggressiv und tödlich sind und daher behandelt werden müssen und welche wir besser in Ruhe lassen, weil sie nie Probleme verursachen werden. Das würde scheinbar das Dilemma der Überdiagnose beseitigen, weil wir die Karzinome finden und behandeln könnten, die das Leben des Patienten bedrohen. Dieser Ansatz ist zwar vielversprechend, aber er müsste große Hindernisse überwinden.
Es hat sich herausgestellt, dass die meisten Krebsarten mehr als ein genetisches Mutationsmuster aufweisen. Viel mehr. Um eine zuverlässige Prognose auf ein bestimmtes genetisches Mutationsmuster bei einem bestimmten Karzinom zu stützen, müssen wir zahlreiche Karzinome mit dem gleichen Muster beobachten. Aber es gibt so viele Muster, dass wir möglicherweise nicht genügend Karzinome mit dem gleichen Muster finden. Der Titel eines Vortrags, der kürzlich auf einer Konferenz im amerikanischen Nationalen Krebsinstitut gehalten wurde, spiegelt das Problem der genetischen Vielfalt beim Krebs treffend wider: »50 000 Tumore, 40 000 Abweichungen«. 18 Die unbequeme Wahrheit lautet: Die genetischen Informationen in einem Karzinom sind möglicherweise zu variabel, als dass wir die Entwicklung irgendeines Karzinoms vorhersagen könnten.
Ähnlich verhält es sich mit der Prognose für Krebspatienten. Um herauszufinden, ob sie nicht-invasive Karzinome haben, die man besser in Ruhe lässt, müssten wir zahlreiche Krebspatienten beobachten, ohne sie zu behandeln. Das ist schon geschehen, vor allem in Studien über Prostatakrebs. Aber es wäre sehr schwierig, genügend Patienten mit jeder Krebsart und mit jedem Mutationsmuster für jede dieser Krebsarten zu finden, die bereit wären, so lange auf eine Therapie zu verzichten, bis wir genau wüssten, wie der Krebs sich entwickelt.
Nehmen wir aber an, wir hätten genügend Karzinome und genügend bereitwillige Patienten, um die künftige Entwicklung jedes Mutationsmusters vorherzusagen. Dann stünden wir immer noch vor einem Problem: Das Genom eines Karzinoms kann sich ändern. Ein veränderliches Genom ist sogar in vielerlei Hinsicht ein typisches Krebsmerkmal; denn Krebszellen teilen sich schnell und replizieren ihr Genom willkürlich, wobei sich die Mutationen mit der Zeit häufen. Da Krebsgenome von Natur aus instabil sind, spiegelt ein heute vorgenommener Test eines Krebsgenoms nicht unbedingt das morgige Krebsgenom wider. Das heißt, dass auch die prognostizierte Entwicklung eines Karzinoms sich durchaus ändern kann. Zudem ist Krebs wie alle Krankheiten nicht allein genetisch bedingt. Denken Sie daran: Dieselbe DNS kann unter verschiedenen Umweltbedingungen verschiedene Phänotypen hervorbringen. Die Entwicklung eines Karzinoms spiegelt also nicht nur sein Genom wider, sondern auch die Umwelt, in der es wächst – das Milieu seines Wirtes. Selbst wenn wir das Genom eines Karzinoms vollständig entziffern könnten und wüssten, wie es sich in Zukunft verändern wird, blieben noch viele Unbekannte übrig.
Ich bestreite nicht, dass die Bestimmung von Krebsgenomen in einigen Fällen nützlich sein wird. Wahrscheinlich hat eine kleine Untergruppe von genetischen Varianten bei manchen Karzinomen eine so große Wirkung auf künftige Risiken, dass man sie identifizieren und nutzen kann. Ich vermute jedoch, dass diese genetischen Informationen hauptsächlich die Entscheidung beeinflussen werden, wie aggressiv eine Behandlung sein sollte (zum Beispiel, ob einer Operation eine Chemotherapie folgen sollte). Um das Problem unnötiger Therapien bei den Opfern von Überdiagnosen zu lösen, brauchen wir einen Test, der eine grundlegendere Frage beantwortet: Ist eine Behandlung überhaupt notwendig?
Obwohl die meisten Menschen einen normalen Phänotyp haben, sind genetische Anomalien bei fast allen zu finden. Bei jedem Menschen kann man ein hohes Risiko für irgendeine Krankheit nachweisen. Deshalb könnten die neuen persönlichen Gentests uns alle krank machen
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