Die Dirne vom Niederrhein
Gedanken überschlugen sich, als er außer Atem den alten Bauernhof und somit das Ende des Dorfes erreichte. Erst jetzt blieb er stehen, fiel auf die Knie und rammte die Hände in den feuchten Boden.
»Wie ist das möglich?«, hauchte er atemlos und schrie aus voller Kraft dem Himmel entgegen.
Seine Stimme verhallte in der Nacht. Irgendwo bellte ein Hund. Maximilian meinte, eine Stimme zu hören, doch er war allein. Nur die funkelnden Sterne bezeugten stumm seine Tränen. Als würde die Vergangenheit ihn einholen und nach ihm greifen, seine Kehle fassen und immer weiter zudrücken. Dunkle Relikte früherer Tage kehrten zurück in die Gegenwart und rissen die Wunden seiner Seele auf. Vor seinem inneren Auge sah er Lorenz und wie ihn Elisabeth, diese Schlange, in den Tod geschickt hatte. Ihretwegen war Lorenz losgezogen, um seine Geliebte Antonella zu befreien. Durch ihre Bosheit und Eifersucht hatte er seinem Bruder – seinem eigenen Fleisch und Blut – die Klinge in den Bauch gerammt. Sie allein hatte Antonellas Versteck an die Bewohner Kempens verraten.
Maximilians Zähne mahlten vor Wut aufeinander. Er hatte angenommen, dass Elisabeth den plündernden Hessen zum Opfer gefallen war, dass sie längst in der Hölle schmorte. Und nun war sie hier.
Das Gesicht zu einer Fratze aus Zorn verzogen, stand er auf. Er würde das Werk vollenden, würde sie dahin schicken, wo sie hingehörte.
Die Hand fuhr über seine Taschen. Er hatte völlig vergessen, Doktor Sylar den Schlüssel für die Zellen zurückzugeben. Der Arzt würde bald die Krankenstube verlassen und ein wenig Ruhe in seinem Bett suchen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Gut, das würde die Sache erheblich einfacher machen. Noch einmal blickte er in den schwarzen Nachthimmel.
Für dich, Lorenz.
*
Wenn dies ein Traum war, wünschte sie sich so schnell wie möglich, daraus zu erwachen. In der Hölle musste es besser sein als hier. Tagelang hatte Elisabeth im Fieberwahn gelegen, nur bruchstückhaft erinnerte sie sich daran, wie ein kleiner, dicklicher Mann von Zeit zu Zeit in diese Zelle eingetreten war und an ihrem Bauch herumgedoktert hatte. Obwohl sich ihr Befinden von Tag zu Tag gebessert hatte, hatte er kein Wort mit ihr gesprochen. Und immer noch brummte ihr Kopf fürchterlich. Die Nonne, welche ihr in den letzten Tagen das Essen gereicht hatte, war jedes Mal in stillen Gebeten versunken. Leise weinend hatte sie ihre Lippen bewegt, während sie Elisabeth fütterte. Dies alles war vergessen.
Als sie plötzlich in das Gesicht des Mannes blickte, der anstelle der Nonne ihre Zelle betreten hatte, schien der Schleier aus brennenden Schmerzen verschwunden.
Maximilian.
Maximilian, der mitverantwortlich für den Tod ihrer Schwester war.
Sie dachte, dass er bei dem Angriff ums Leben gekommen sei. Doch er lebte, schlimmer noch, er war hier. An seinem Gesichtsausdruck hatte sie erkannt, dass er genauso überrascht wie sie selbst war. Diese Überlegungen verdrängten für einen Moment die Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse vor Kempen. Doch als die Schreie langsam erstarben und durch ein schmerzvolles Stöhnen ersetzt wurden, fanden diese Gedanken den Weg zurück in Elisabeths Verstand. Eine der Frauen summte durch den Knebel ein trauriges Lied. War es Pauline? Elisabeth schloss die Augen.
Rosi war tot. Genau wie Hauptmann Falkensted. Und auch die kleine Bela hatte sie nicht beschützen können. Sie war jetzt in der Hand des Majors. Dabei hatte Elisabeth versprochen, dem Mädchen würde kein Leid geschehen. Sie hätte die List des Offiziers durchschauen müssen. Dieser Bastard von einem Mann. Tränen der Wut stiegen in ihr auf, sie zerrte an den Eisenketten, welche sie auf dem Stroh hielten. Das musste ein Traum sein, ein schrecklicher, immerwährender Albtraum.
Sie wandte ihr Gesicht zur Tür, als sie das metallische Klacken des Schlosses vernahm, und sah in die glühenden Augen Maximilians, der mit einer Fackel in der Hand hereintrat. Seine Schritte waren langsam und bedächtig, als er auf sie zukam. Während er den Knebel löste, sah sie einen Dolch im Hosenbund aufblitzen. Augenblicklich wurde ihr bewusst, warum dieser Mann hier war.
»Du bist am Leben«, zischte Maximilian, ließ die Fackel in eine Halterung gleiten und verschränkte die Arme. Seine Augen waren rot vor Tränen.
»Genau wie du!«, antwortete Elisabeth ebenfalls voller Zorn.
»Wie hast du es geschafft, dem Tod zu entkommen? Solltest du dich nicht eigentlich selbst richten,
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