Die Drachenkämpferin 01 - Im Land des Windes
zusammen los. Aber deshalb musst du doch nicht ...« Nihal ließ ihn nicht ausreden. »Habe ich dir eigentlich schon mal erzählt, dass ich, bevor wir uns kennen lernten, bereits regelmäßig hier heraufkam?«
»Nein, nicht so direkt. Wieso?«
»Sennar, es gibt da etwas, was ich dir immer verschwiegen habe. Ja, mit keinem Menschen habe ich je darüber gesprochen.«
Sennar horchte auf. »Und das wäre?« »Nun, ich höre Stimmen.«
Einen Augenblick lang blieb Sennar stumm und brach dann in schallendes Gelächter aus.
»Hör doch auf, was gibt's denn da zu lachen?«, schimpfte Nihal. »Wenn es dich interessiert, dann hör wenigstens zu, wenn nicht, auch nicht schlimm. Dann ist die Sache eben erledigt.«
»Nein, nein, verzeih mir. Es war nur, weil du gesagt hast, ›ich höre Stimmen‹ ... Aber erzähl, ich bin ganz Ohr.«
Nihal erzählte ihm alles: Von dieser seltsamen Wehmut, die sie immer schon überkam, wenn sie allein war, von den Stimmen aus der Ferne, die nach ihr zu rufen schienen, den Bildern des Todes, die sie so oft in ihren Träumen heimsuchten. Sie wusste nicht, warum es sie gerade jetzt drängte, davon zu erzählen. Schließlich war es ihr ganzes kurzes Leben lang ein Geheimnis gewesen, doch an diesem Abend hoffte sie vielleicht, Sennar würde ihr eine Antwort geben können.
Als sie geendet hatte, verharrte der Zauberer einige Augenblicke in nachdenklichem Schweigen und erklärte dann: »Ich bin wirklich verwirrt, Nihal. Und ich weiß auch gar nicht, was ich dir dazu sagen könnte. Vielleicht bist du eine Seherin, und deine Träume sind warnende Vorzeichen. Nun sieht es aber nicht so aus, als ob sich irgendetwas von dem, was du mir erzählt hast, bewahrheitet hätte. Deshalb ... na ja ..., ich weiß es nicht, vielleicht solltest du einmal mit Soana darüber reden.«
»Daran habe ich auch schon gedacht. Nur ...« Nihal brach ab und blickte auf einen fernen Punkt in der Ebene. »Was mag das nur sein?«, murmelte sie.
Am Rande der Steppe erkannte man eine schmale dunkle Linie, als würde ein Bleistiftstrich den Horizont kennzeichnen. Diese Linie breitete sich aus und wurde langsam immer dicker, bis sie den Umfang eines Flecks angenommen hatte: Ja, es sah so aus, als würde sich ein Tintenfleck ausbreiten, ein schwarzes Tuch, das mehr und mehr von der Landschaft unter sich begrub.
Nihal und Sennar blickten gebannt zum Horizont, doch die untergehende Sonne blendete sie, und so konnten sie nichts Genaueres erkennen. Immer stärker aber beschlich sie eine diffuse, dumpfe Furcht. Dann plötzlich erkannten sie es. Ein Heer. Ein vieltausendköpfiges Heer von pechschwarzen Kriegern. Die beiden waren wie betäubt. Es war ein Bild wie vom Ende der Welt, und doch ging eine unerklärliche Faszination von ihm aus. Ein Schauspiel, schön und entsetzlich zugleich: Tausende von Ameisen stürmten auf die Stadt zu. Die schon im Halbdunkel liegende Ebene war getüpfelt vom Aufblitzen hunderttausender zur Sonne gerichteter Lanzen, und über dieser unübersehbaren Schar von Kriegern erhob sich eine geflügelte Gestalt: ein riesengroßer Drache, geritten von einem Mann in einer dunklen Rüstung, die ihn von Kopf bis Fuß verhüllte. In der friedlichen Atmosphäre des Sonnenuntergangs hallte wie ein fernes Echo Kriegsgeschrei aus Tausenden von Kehlen wider, die Tod und Verderben verkündeten.
Bei Nihal rief dieser Anblick erschreckende Erinnerungen wach. Ihr war, als habe sie dies alles nicht nur einmal, sondern gar schon tausende Male gesehen. Wie Donner hallten die Stimmen in ihrem Geiste wider. Sie presste die Hände auf die Ohren und stöhnte auf vor Schmerz.
Dieser Klagelaut schien Sennar aufzurütteln. Er umfasste ihre Schultern und zwang sie, ihm zuzuhören. »Das ist das Heer des Tyrannen, Nihal. Der Tyrann rückt an, um sich auch Salazar zu holen! Wir müssen die Leute warnen, damit sie alle fliehen ...« Nihal blickte ihn aus leeren Augen an. Immer noch hallten die Stimmen in ihrem Kopf wider. Das Kampfgeschrei des Heeres kam näher, klang immer bedrängender. »Hast du mich verstanden, Nihal? Lauf!«
Und Nihal lief. Sie stürzte zur Falltür, die zum Dach heraufführte, und ließ sich hinunter. Während sie die Treppen hinabrannte, versuchte sie, aus ihrem Herzen die eisige Furcht zu vertreiben, die sie überkommen hatte. Und aus voller Kehle brüllte sie: »Der Tyrann! Der Tyrann ist da! Sein Heer steht vor den Toren.«
Doch die Nachricht hatte sich bereits verbreitet. Ein anderer hatte die Menschen
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