Die Drachenkämpferin 03 - Der Talisman der Macht
vollzogen habe, löst sie sich auf, und dann bin ich frei zu kämpfen und kann dem Tyrannen endlich von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten.«
Die Versammelten begriffen, dass Nihals Entscheidung unumstößlich war, und stimmten ihr schließlich zu, wenn auch schweren Herzens.
Am Abend begann es zu schneien, ein dichter Vorhang aus feinen Flocken senkte sich über das Land. Nihal war in ihrem Zimmer in Idos Unterkunft und konnte nicht schlafen. Als sie in das Hauptlager zurückgekehrt war, hatte man ihr vorgeschlagen, ihre eigene Hütte wieder zu beziehen, die sie in den Monaten nach ihrer Ernennung zum Ritter bewohnt hatte. Doch kaum hatte sie einen Fuß hineingesetzt, wurde ihr klar, dass sie sich dort nicht wohlfühlen würde. Zu viele Erinnerungen gab es, denn es war noch alles so, wie sie es zurückgelassen hatte, einschließlich Laios Bett, in dem sie fast noch den Abdruck seines schmächtigen Körpers zu sehen glaubte. So hatte sie sich für Idos Hütte entschieden, wo sie zudem noch auf den Beistand ihres Lehrers zählen konnte.
Nun war sie allein in dem Raum und betrachtete die Rüstung, die vor ihr lag. Hätte Laio noch gelebt, wäre er jetzt bei ihr gewesen, um ihre Waffen zu polieren. Dies hatte Nihal nun selbst zu erledigen. Sie nahm ihr Schwert zur Hand und begann es zu säubern. Die Klinge glänzte nicht mehr so wie früher und trug die Spuren zahlreicher Schlachten, Kratzer und Kerben, die nicht mehr zu beseitigen waren. Aber es war immer noch so scharf wie damals, als Nihal es, von Livon frisch geschmiedet, zum ersten Mal in die Hände genommen hatte. Auch ihr Schwert war erschöpft, so wie sie selbst, es hatte zu viel gekämpft, hatte zu viel Blut geschmeckt; nun war es an der Zeit, es zur Ruhe kommen zu lassen. Wenn die Götter ihr beistanden, würde dies schon am nächsten Tag Wirklichkeit werden können - zusammen mit Sennars Küssen.
Dann ging sie dazu über, ihre Rüstung zu polieren, obwohl das gar nicht nötig war, denn der Waffenschmied hatte sie ihr sauber und glänzend zurückgebracht. Sie zu berühren, diente ihr jedoch dazu, in die Atmosphäre der Schlacht einzutauchen. Zum ersten Mal in ihrem Leben brannte Nihal nicht darauf, zu kämpfen, sondern empfand es mehr als eine schmerzliche Pflicht. Gewiss, einen Teil ihrer selbst verlangte es danach, sich mit dem Tyrannen zu messen, ihm gegenüberzutreten, zu verstehen, was diesen über all die Jahre dazu getrieben hatte, Tod und Schrecken zu verbreiten. Und vielleicht, so wurde ihr schaudernd bewusst, sehnte sie sich in einem entfernten Winkel ihres Herzens doch noch nach Rache, wünschte sie sich, dass mit dem Blut dieses Mannes all das Blut hinweggewaschen würde, das seinetwegen geflossen war. Wenn sie aber an Sennar dachte, verblassten Blutdurst und Rachsucht, und es blieben nur Liebe, die Sehnsucht nach ihm und der Wunsch, an seiner Seite ein friedliches Leben zu führen.
Was sie am meisten überraschte, war ihre Angst zu sterben. Das hatte sie noch nie zuvor empfunden, sondern sich im Gegenteil unzählige Male den Tod geradezu ersehnt. Als Ido ihr dann beigebracht hatte, dass sie sich als Drachenritterin nicht selbst zu einer Waffe machen musste, wünschte sie sich häufig, Angst vor dem Tod zu empfinden, hatte dieses Gefühl aber nie kennengelernt. Abgesehen vielleicht von ihrer allerersten Schlacht, als es um die Zulassung zur zweiten Phase der Drachenritterausbildung ging. Dies war die Schlacht, in der Fen gefallen war. So schloss sich der Kreis, sagte sie sich mit einem bitteren Lächeln: Angst verspürte sie, als sie zum ersten Mal in die Schlacht zog, und nun auch, bevor sie vielleicht zum letzten Mal kämpfte.
Sie legte die Rüstung auf den Boden und blickte aus dem Fenster auf den sacht fallenden Schnee. Sie wusste, dass sie eigentlich Schlaf brauchte, aber es ging nicht. Länger als drei Jahre hatte sie auf diesen Moment gewartet, und nun war die letzte Schlacht gekommen. Wie hätte sie da Ruhe finden können?
Als sie sich auszog, hatte sie plötzlich wieder Sennars Dolch in der Hand. Das Futteral verdeckte die ganze Klinge, und kein Licht schimmerte durch das Leder, aus dem es gefertigt war. Auf dem Dolch stand geschrieben, wozu sie anderntags kämpfen würde. Hätte sie dort gesehen, dass Sennar tot war, wäre ihr nichts als Hass geblieben. Doch morgen wollte sie dem Feind nur von dem Verlangen nach Frieden geleitet gegenübertreten.
Sie umklammerte den Dolch und fand nicht den Mut, ihn zu zücken.
Wo bist du,
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