Die Druidengöttin
auf dem Gang auf sie gewartet hatte, begrüßte Keely mit einem Lächeln. Zusammen machten sich die Gräfin und der Page auf den Weg durch das verwirrende, düstere Korridorlabyrinth von Hampton Court. Je mehr sich Keely der Welt außerhalb der Palastmauern näherte, desto schneller wurde sie. Die Vorfreude hatte sie erfaßt. Seit Monaten hatte sie die aufgehende Sonne nicht mehr auf dem Gesicht gespürt – es sei denn, durch ein Fenster.
Als sie durch die Tür nach draußen trat, hatte Keely das Gefühl, eine gänzlich andere Welt zu betreten. Trotz der frühen Stunde hasteten unzählige Menschen umher. Soeben angekommene oder abreisende Edelleute samt ihren Familien eilten auf den winterbraunen Wiesen hin und her. Diener waren unterwegs, alles für ihre Herrschaften vorzubereiten, und Händler aller Art richteten sich auf einen weiteren Tag voller einträglicher Geschäfte ein.
Am östlichen Horizont wurde es lichter, orange Flammen griffen nach der Welt der Menschen. Dieser Weihnachtstag versprach ein unvergleichlich schöner Tag zu werden – strahlender Sonnenschein, ein wolkenlos blauer Himmel und klare, frische Luft.
Keely atmete tief ein und füllte ihre Lungen mit der klaren Winterluft. Ein Morgen wie dieser weckte eine tiefe Sehnsucht in ihr, so zu beten, wie sie es gewohnt war. Doch das Leben am Tudorhof bot viel Luxus und wenig Privatleben.
»Was gibt es Neues an Klatsch?« erkundigte sich Keely, als sie über den Rasen zu den Stallungen liefen.
»Ich hörte, Lady Jane habe letzte Nacht ihren Mann betrogen«, antwortete Roger.
Keely warf dem Jungen einen langen Seitenblick zu, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sie wollte nichts über die jüngste Eroberung Lady Janes hören.
Roger, der es nicht gewöhnt war, feinere Nuancen des Ausdrucks zu erkennen, war ihr Blick entgangen, und er fuhr fort: »Dieses heiße Huhn wird von Tag zu Tag kühner. Oder sollte ich sagen ›von Nacht zu Nacht‹?«
»Es ist nicht nett von dir, an solchen Geschichten weiterzustricken«, erklärte ihm Keely und unterdrückte ein Lächeln. Obwohl sie die frühere Geliebte ihres Mannes nicht besonders schätzte, fühlte Keely sich verpflichtet, einen Jungen wie Roger auf den rechten Pfad der Tugend zu geleiten. Daß ein Zwölfjähriger so lässig über Ehebruch daherplauderte, war unangebracht.
»Janes Neigung, das Ehegelöbnis zu verbiegen, ist allgemein bekannt«, antwortete Roger. Mit einem Seitenblick auf sie fügte er hinzu: »Es wird auch berichtet, daß sich Eure Cousins und die Cousinen des Grafen recht nahe gekommen sind.«
Keely nickte. »Ja, es hat sich eine erstaunliche Freundschaft zwischen ihnen entwickelt.«
»Ich denke, innig beschreibt ihre Beziehung am besten.«
Überrascht fuhr Keely herum und sah ihn an. »Willst du damit sagen ...?«
»Genau.«
Im Stall standen Odo und Hew neben Rhys‘ Hengst und überprüften, ob für die Reise alles in Ordnung war. Rhys lächelte erleichtert, als er seine Schwester sah.
»Ich war mir sicher, daß du kommst.« Rhys nahm sie in die Arme.
»Du fehlst mir schon jetzt!« Keely blickte ihn mit tränenerfüllten, veilchenblauen Augen an. »Versprich mir, vorsichtig zu sein.«
Rhys nickte. »Vergiß nicht, Schwester, bei mir in Wales wartet immer ein Zuhause auf dich.«
»Danke, Bruder.« Mit einem Seitenblick auf Odo und Hew fügte Keely hinzu: »Schade, daß du nicht bis zur Hochzeit von Odo und Hew bleiben kannst.«
»Was?« rief Odo.
»Hochzeit?« schrie Hew entsetzt.
Keely ging auf ihren Ausbruch nicht ein. »Die Hochzeitsnacht haben sie bereits genossen«, erklärte sie ihrem Bruder. »Nun erwartet sie das Eheleben.«
»Ich gehe davon aus, daß sie glücklich verheiratet sind, bevor ich Wales erreiche«, antwortete Rhys lächelnd. »Du benachrichtigst mich, sobald das Baby da ist?«
»Natürlich.« Keely ließ ihn nur widerwillig ziehen und lehnte den Kopf an seine Brust.
»Bestelle Morgana meine Abschiedsgrüße«, bat Rhys sie. »Und richte dem Herzog aus, daß ich an seiner Tochter interessiert bin und ihm schreiben werde, sobald ich Gelegenheit dazu habe.«
»Eine Ehe mit Morgana wäre die Hölle auf Erden«, erklärte Keely ihm. »Außerdem liebt meine Schwester das Leben am Hofe zu sehr, um dich zu heiraten und nach Wales zu ziehen.«
»Morgana ist sehr temperamentvoll«, entgegnete Rhys. »Das ist alles. Sie braucht einen starken Mann, der sie bändigt.«
»Vermutlich weißt du, was am besten für dich ist. Du hast schon immer die
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