Die dunkle Seite des Spiegels - Thriller
ist keine Muttersprachlerin. Leichter Akzent, mit ziemlicher Sicherheit Bulgarien.«
Mehrfach ließ sie den Satz: »Als ich die Tür öffnete, dachte ich mir schon ...« abspielen, gefolgt von dem Ausruf des Mannes: »SCHNAUZE!«
»Dimitrova hat sich für einige Sekunden wieder fassen können. Fürchtet sich vor dem Sterben. Will Hinweise geben, ohne die Aufmerksamkeit des Mörders auf das versteckte Diktafon zu lenken. Täter überschreit Opfer, um die Worte nicht hören zu müssen.«
Élisabeth Maréchal lauschte weiter. »Wieso bist du aufgestanden?« , fragte der Mann.
In dem erstickten Schrei der jungen Frau lag nackte Panik. Unwillkürlich schloss Maréchal die Augen, als das Geräusch des fallenden Körpers nach den heftigen Schlägen an ihr Ohr drang. Sie hielt die Aufzeichnung an.
Durchatmen – das brauchte sie jetzt. Abstand gewinnen zu dem, was sie später als »Soundtrack eines realen Mordes«, bezeichnen sollte. Sie trat ans Fenster ihres Labors, das auf einen Park hinausging, aß einen Apfel und beobachtete zwei Eichhörnchen, die sich eine wilde Jagd durchs Geäst lieferten.
Schließlich fuhr sie sich wieder durch ihren blonden Schopf, setzte erneut die Kopfhörer auf und lauschte aufmerksam der Passage, wo der Mörder mit leiser Stimme unverständliche Selbstgespräche führte. »Trotz Bearbeitung nicht zu verstehen«, schrieb sie in ihre Notizen.
Mit geschlossenen Augen verfolgte sie die Todesqualen, den Mord und die Vergewaltigung von Lora Dimitrova an einem Stück.
Als alles vorüber war, setzte sie den Kopfhörer ab und rieb sich die Augen. Es war ihr unmöglich, das Entsetzen auszudrücken, das sie beim Anhören der DVD empfunden hatte. So etwas war ihr in all den Jahren ihrer Arbeit noch nie untergekommen.
Nacheinander rief sie mehrere Programme auf, die in der Lage waren, die beiden Stimmen voneinander zu trennen. Eine Dreiviertelstunde später konnte sie endlich Dimitrovas Worte verstehen. Sie hörte sie mehrmals, schrieb sie auf ihren Block und umrahmte sie mit mehreren Strichen. Am Rand notierte sie: »Verstehe jetzt, warum der Mörder so große Angst hatte und nicht wollte, dass man diese Worte hört.«
Das Klingeln des Telefons ließ sie zusammenzucken. Ein Mitarbeiter erinnerte sie daran, dass der Abschied eines Kollegen in den Ruhestand gefeiert wurde. Élisabeth sah auf die Uhr. Es war halb acht. Sie hatte die kleine Feier völlig vergessen, war aber jetzt froh, ihr Labor hinter sich abschließen zu können. Die wenigen Minuten, die sie von der Cafeteria trennten, empfand sie wie eine Art Dekompressionsschleuse.
Das Fest dauerte länger als vorgesehen, aber Élisabeth Maréchal hatte keine Eile, die beunruhigende Expertise fortzusetzen. Sie verließ die Cafeteria mit den letzten Gästen, lehnte jedoch die Einladung zu einem Absacker in der Stadt ab.
Mitternacht war bereits vorbei, als sie wieder in ihr noch taghell beleuchtetes Labor zurückkehrte, das als heller Fleck inmitten der dunklen Stockwerke erstrahlte. Im Flur glommen nur die schwachen Lampen über den Notausgängen. Je näher sie ihrem Büro kam, desto mehr wuchs ihr innerer Widerstand gegen das, was ihr bevorstand. Sie würde die Aufzeichnung noch einmal hören müssen, ehe sie ihre Untersuchung beenden konnte. Sie schloss die Tür auf, trat ein, ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen und verriegelte sie. Dann machte sie sich klar, dass sie sich im abgesicherten Büro einer polizeilichen Dienststelle befand. Sie zuckte die Schultern. Kein Wunder, dass sie in dieser Situation überreagierte.
Als sie ihren Computer wieder hochfahren wollte, stellte sie fest, dass sie bei ihrem überstürzten Aufbruch die Apparate nicht abgeschaltet hatte. Sie waren noch eine Zeitlang weitergelaufen, ehe sie sich in den Standby-Modus verabschiedet hatten. Mit einer kurzen Bewegung der Maus erweckte Élisabeth den Bildschirm zu neuem Leben. Die Resultate der Analyse liefen als grafische Endlosschleife über den Monitor. Élisabeth erstarrte. Sie brauchte einige Minuten, um zu begreifen, was da vor ihr ablief. Langsam stand sie von ihrem Bürostuhl auf, griff, ohne die Augen vom Bildschirm zu wenden, nach dem Telefon und reservierte eine Fahrkarte für den TGV um sieben Uhr morgens ab Lyon. Mit etwas Glück konnte sie um halb zehn in Mistrals Büro sitzen. Ein Blick auf die Bürouhr zeigte ihr, dass sie noch genau fünf Stunden Zeit hatte, um ihre Ergebnisse einem Feinschliff zu unterziehen. Sollte ihre Hypothese sich
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