Die dunkle Villa: Ein Fall für Alexander Gerlach (Alexander Gerlach-Reihe) (German Edition)
einer falschen Spur gefolgt.
Es ging gar nicht um das Haus an der Gundolfstraße.
Die in unseren Akten vermerkte Anschrift war falsch.
Wieder einmal nahm ich mir den alten grauen Hängeordner vor. Die Telefonnotiz vom zehnten November fünfundachtzig. Elisabeth Holland, las ich zum x-ten Mal, Gundolfstraße. Im Protokoll, auf dem Totenschein, überall dieselbe Adresse. Erst als alle drei Papiere nebeneinanderlagen, fiel mir etwas auf: Es war überall dieselbe Handschrift. Die Telefonnotiz, die Einträge im Totenschein und sogar eine der beiden Unterschriften unter dem maschinengeschriebenen Protokoll stammten ganz offensichtlich von ein und derselben Person. Von Johann Boll. Jetzt, wo ich es endlich sah, konnte ich mir nicht mehr erklären, warum mir das nicht gleich zu Beginn aufgefallen war.
Und noch etwas fiel mir ins Auge: Die Ergänzung des Arztes auf der zweiten Seite, die Tote habe vermutlich unter Alkoholeinfluss gestanden, war mit einer anderen Handschrift geschrieben als der ganze Rest. Mit einer typischen, kaum leserlichen Arztklaue. Ich warf die graue Mappe auf den Tisch zurück und meine Brille hinterher. Jetzt war mir klar, was damals abgelaufen war: Boll und sein Kollege hatten dem Arzt angeboten, ihm den lästigen Schreibkram abzunehmen, vermutlich, während dieser noch dabei war, den Leichnam zu inspizieren. Dann hatten sie auch in ihrem Protokoll – und zwar mit Sicherheit nicht aus Versehen – die Anschrift eingetragen, die in Vicky Hergardens Personalausweis stand und offenbar falsch war. Vermutlich war das Ehepaar Hergarden irgendwann innerhalb der Stadt umgezogen und hatte versäumt oder sogar absichtlich unterlassen, dies dem Einwohnermeldeamt mitzuteilen. Auch, dass nicht der Arzt, sondern Boll die Daten auf den Totenschein geschrieben hatte, war nicht ungewöhnlich. Ich hatte so etwas selbst schon mehr als einmal erlebt: Der Fall ist klar, alle wollen die lästige Sache so rasch wie möglich hinter sich bringen. Man will fort, man hat Wichtigeres und Besseres zu tun. Man unterstützt sich gegenseitig, so gut es geht, um das Verfahren abzukürzen. Daran war nichts Ungewöhnliches und nichts Ehrenrühriges. Und schließlich hatte Boll, um die Sache wasserdicht zu machen, auch noch die Telefonnotiz ausgetauscht, was kein großes Problem war, denn die wurden in einem allgemein zugänglichen Ordner im Führungs- und Lagezentrum aufbewahrt. Er hatte die Notiz herausgenommen, weil er sie angeblich für irgendetwas brauchte, und später einen anderen, von ihm selbst ausgefüllten Vordruck zurückgebracht.
Viktoria Hergarden war nicht in dem Haus an der Gundolfstraße gestorben. Was nur bedeuten konnte – ja, was eigentlich?
Ich fiel in meinen Sessel zurück. Eines war nun endgültig klar: Ihr Tod war kein Unfall gewesen. Hier waren in großem Stil die Fakten gefälscht worden. War vielleicht auch der Arzt an dem Deal beteiligt gewesen? Denn irgendeine Art von Deal musste es gegeben haben. Welchen Grund sollten zwei Polizisten haben, Karriere und Pensionsansprüche aufs Spiel zu setzen, wenn nicht die Erwartung einer großzügigen Belohnung? Einer Belohnung, für die man sich einen gebrauchten Ferrari kaufen konnte zum Beispiel? Vermutlich hatten sie zuvor den Tatort so verändert, dass das Ganze am Ende nicht nach dem aussah, was es in Wirklichkeit eben doch gewesen war: nach einem Mord. Aus diesem Grund hatte es auch so lange gedauert, bis der Notarzt kam. Man hatte ihn erst gerufen, als alles gewissenhaft präpariert war.
Man hatte Zeit gebraucht.
Zeit, um Spuren zu verwischen.
24
Eine Stunde später hielt ich die Fahrkarte aus Rosalie Jordans Manteltasche in Händen. Sie war für die Strecke Ludwigshafen Hauptbahnhof nach Heidelberg gültig und abgestempelt am Dienstagnachmittag um siebzehn Uhr siebenunddreißig. Die alte Schauspielerin war mit einem S-Bahn-Zug der Deutschen Bahn unterwegs gewesen, entnahm ich dem Zangenabdruck des Zugbegleiters mit der telefonischen Unterstützung eines auch am späten Freitagnachmittag noch gut gelaunten und geduldigen Mitarbeiters der Deutschen Bahn. Was hatte sie in Ludwigshafen gewollt? Einen alten Bekannten treffen, natürlich. Einen alten Bekannten, der sie knapp sechs Stunden später anrief, nachts um kurz nach elf, von seinem Hotelzimmer aus. Und wenig später war sie tot gewesen.
»Sie bringen ein Interview!«, jubelte Sönnchen im Vorzimmer. »Wollen Sie es sehen?«
»Mit Graf?«
»Im ZDF bringen sie ein Interview. Live!«
Marcel Graf
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