Die dunkle Villa: Ein Fall für Alexander Gerlach (Alexander Gerlach-Reihe) (German Edition)
Menschenkenner, Herr Gerlach.«
Er erhob sich langsam, trat mit leicht hinkendem Schritt ans Fenster, die Hände auf dem Rücken, stand einige Sekunden schweigend da. Er stand da wie eine Aufforderung, wurde mir endlich klar.
Ich räusperte mich. »Waren seine Verletzungen … lebensbedrohlich?«
Der Arzt sprach mit dem Fenster, was ihm das Antworten vielleicht leichter machte. »Nein.«
Welches war die Frage, die er hören wollte?
»Waren die Verletzungen … waren sie so, wie Sie es nach Lage der Dinge erwartet hätten?«
Dieses Mal musste ich eine Weile auf die Antwort warten.
»Das ist natürlich schwer einzuschätzen«, sagte der Arzt schließlich leise. »Er hatte Schnittwunden an allen möglichen Stellen. Dort, wo man sie erwarten würde, in einem solchen Fall.«
»Es war also nichts Ungewöhnliches an diesen Verletzungen?«
Wieder musste ich warten, während Dr. Haller mit seinem Gewissen rang. »Ich weiß nicht, wie ich es am besten ausdrücken soll. Sie waren mir … ein bisschen zu … Genau wie Sie sagen – so, wie man sie erwarten würde.«
Mit einem Ruck wandte er sich um und sah mir wieder ins Gesicht. Sehr ernst, mit einem Mal. »Vor einem halben Jahr hatte ich einen jungen Burschen hier. Achtzehn oder neunzehn Jahre alt, aus Beerfelden. Es war ein heißer Samstagabend, Hochsommer, und wie üblich hatten wir gut zu tun in der Notaufnahme. Es hatte wohl Streit um ein Mädchen gegeben, eine kleine Schubserei, und dann hat sein Kontrahent ein Messer gezückt.«
Er verstummte und kam mit gesenktem Blick zum Tisch zurück. Setzte sich wieder. Füllte linkisch trüben Tee in seine schmutzige Tasse. Nippte daran. Schüttelte angewidert den Kopf. Dann sah er entschlossen auf.
»Der Bursche damals hatte Schnittwunden am Oberschenkel, am Unterbauch, an der Brust natürlich, an beiden Unterarmen, im Gesicht, an der rechten Hand, an der linken Hand und ich weiß nicht, wo sonst noch überall.« Er machte eine kurze Pause, um die Wichtigkeit des Folgenden zu unterstreichen. »Auch an vielen Stellen, wo man sie nicht erwarten würde.«
Ich nickte.
Er nickte ebenfalls.
Und lächelte plötzlich wieder.
Was man alles sagen kann, ohne es auszusprechen.
26
Kurze Zeit später stand ich wieder vor den Edelstahltüren der beiden Aufzüge. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann ertönte auch schon der sanfte Gong, die Doppeltüren glitten lautlos auseinander, ein bulliger, großer Mann in dunklem Anzug trat heraus, ging an mir vorbei, ohne mich zu bemerken. Ich betrat den Lift, drückte den zweituntersten Knopf und hatte plötzlich Herzrasen. Er war es! Kein Zweifel – der Mann im dunklen Anzug, der mich vor fast zwei Wochen gestoßen und zu Fall gebracht hatte! Hastig drückte ich alle Knöpfe von oben nach unten. Der Lift stoppte auf dem nächsten Geschoss, ich stürzte heraus, raste die Treppe hinauf, aber als ich den Flur wieder betrat, war der andere schon nicht mehr zu sehen. Ich hastete zu Dr. Hallers Zimmer, klopfte kurz, riss die Tür auf. Das Zimmer war leer. Ich öffnete die nächste Tür. Die übernächste. Dort traf ich auf die blonde Schwester.
»Eine kurze Frage«, sagte ich atemlos.
Sie musterte mich halb bestürzt, halb belustigt. »Ja?«
»Grafs Leibwächter. Einen davon habe ich vorhin getroffen, den Schlanken. Wie sieht der andere aus?«
»Der? Ein Klotz von einem Kerl. Immer in Anzug und Krawatte. Nicht sehr gesprächig.«
»Wie groß ist er?«
»Ungefähr wie Sie. Eins neunzig vielleicht. Aber fast doppelt so breit. Und unfreundlich wie ein Ochse. Der schmale sagt wenigstens mal guten Tag oder nickt einem freundlich zu. Der andere … unmöglich.«
Während der kurzen Fahrt zur Polizeidirektion wurde mir bewusst, dass ich das runde und ein wenig dumm wirkende Gesicht des zweiten Leibwächters noch ein drittes Mal gesehen hatte. Nicht nur vor zehn Minuten, und als er mir den Stoß vor die Brust versetzte, sondern …
Sönnchen war vernünftigerweise längst ins Wochenende geflüchtet, als ich atemlos in mein Vorzimmer stürmte. Ich durchstöberte mit fliegenden Fingern den beneidenswert kleinen Papierstapel auf ihrem Schreibtisch, fand nicht, was ich suchte. Aber glücklicherweise besaß auch sie ein Handy.
»Das Foto?«, fragte sie verdutzt. »Natürlich ist das noch … Warten Sie … Gucken Sie mal in die unterste Schublade links. Das ist meine Ablage für alles, wo ich nicht weiß, wohin damit. Müsste ziemlich weit oben liegen.«
Sekunden später hielt ich das
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