Die Entlarvung
Weihnachten feiern. Das ganze Haus war festlich geschmückt, der Baum war aufgestellt, die Geschenke unter ihm ausgebreitet. Sogar für Pussy waren ein paar Päckchen dabei. May und Hugh Hamilton wirkten so glücklich, so ausgelassen. Am ersten Feiertag sollten auch noch Julias Bruder, seine Frau und seine Kinder zu dem großen Fest dazu stoßen. Ein idyllisches Weihnachten im Kreis der Familie – eine Umgebung, in der Lucy aufblühen mußte. Julia wünschte sich nur, daß Ben gewartet hätte …
Er streichelte sie sanft. »Was sagst du? Meinst du, du kannst es mit mir aushalten?«
»Ben«, begann sie behutsam, »wir haben uns gerade geliebt, und am liebsten würde ich ja sagen, ohne weiter darüber nachzudenken. Aber ich denke, das wäre nicht fair … Gibst du mir noch etwas Zeit?«
»Soviel du willst. Ich habe nicht vor, inzwischen eine andere Frau zu fragen. Gute Nacht, mein Liebling.«
Er schlief tief und fest. Julia dagegen lag bis zum Morgengrauen wach. Das Flugticket nach Gstaad befand sich in ihrer Aktenmappe. Es war auf den achtundzwanzigsten Dezember ausgestellt und gehörte zu einer Maschine, die um elf Uhr vormittags von Gatwick abflog.
Joe Patrick war in Dublin. Er hatte seine einträgliche Position bei Harold King verloren, steckte aber bereits voll neuer Ideen, wie er sich in Zukunft sein Geld verdienen konnte. Er würde es mit etwas ganz anderem versuchen. Bisher hatte er sich als Zuhälter, Drogendealer und als Kings Mittelsmann verdingt. Einige besonders unangenehme Fälle hatte er selbst in die Hand genommen – wie die Sache mit der alten Schachtel aus Midhurst – und war in Kings Auftrag in den Staaten und der Karibik aktiv geworden. Nun aber schwebte ihm ein völlig neues Projekt vor. Eines, bei dem sicher genausoviel Geld für ihn heraussprang wie bei seinen früheren Aufträgen. Erste Kontakte zu Sympathisanten in Dublin hatte er bereits aufgenommen. Der Köder war ausgelegt, der Fisch hatte angebissen.
Die IRA konnte einen Verbindungsmann in London gut gebrauchen, zumal es sich bei ihm um einen Geschäftsmann handelte, der Waren auf das europäische Festland exportierte. Er konnte unauffällig Gelder nach Amsterdam und Brügge weiterleiten, wo die IRA Zellen besaß, die Anschläge auf NATO-Basen und andere militärischen Einrichtungen verübten. Außerdem verfügte er über viele wichtige Kontakte in London selbst – Kontakte, die bei der Durchführung von Aktionen eine wertvolle Hilfe sein konnten. Joe Patrick hatte einiges anzubieten, zu einem angemessenen Preis, verstand sich. Der Mann, der in Dublin sein Verhandlungspartner gewesen war, hatte ihm eine Anzahlung in bar überreicht, die sich sehen lassen konnte. Er hielt die Tasche mit dem Geld fest umklammert, während er nach Hause flog. London betrachtete er jetzt als seine Heimat. Irland war ihm zu eng, zu provinziell geworden. Um nichts in der Welt hätte er dort die Weihnachtstage verbringen mögen. Noch heute dachte er mit Schaudern an die tristen Feierlichkeiten, an die strengen Prozeduren, die er Jahr für Jahr in dem Waisenhaus über sich ergehen lassen mußte.
Er betrat seine elegante Wohnung. Keine Mädchen, die ihn begrüßten und mit ihm ihn den Whirlpool stiegen, wo er sich nach einer langen Reise am besten entspannte. Er würde sich bald nach ein paar neuen Gesellschafterinnen umsehen müssen. Gelangweilt blätterte er seine Post durch. Nichts als Rechnungen … und ein paar Weihnachtskarten, nichts Interessantes. Er beschloß, sich ein wenig frisch zu machen und dann noch einmal auszugehen.
Zuerst stattete er seiner Stammkneipe einen Besuch ab. Falls er dort ein Mädchen fand, das ihm gefiel, würde er mit ihm in Soho essen gehen und es dann mit zu sich nach Hause nehmen. Es würde ihm nie einfallen, in die Wohnung des Flittchens mitzugehen. Er war äußerst penibel, was Sauberkeit und Hygiene betraf, und fühlte sich in seinem eigenen Bett am wohlsten. Er trank an diesem Abend etwas zuviel Alkohol und setzte das Mädchen, das er aufgegabelt hatte, erst am nächsten Morgen vor die Tür. Normalerweise schmiß er die Frauen nach getaner Arbeit sofort raus, egal wie spät es war. Aber gestern war er in guter Stimmung gewesen. Er hatte einige alte Bekannte wiedergetroffen, die sich förmlich darum gerissen hatten, in seine Dienste zu treten … Das Leben war gut zu ihm. Er konnte zuversichtlich und gelassen in die Zukunft blicken. Heute war Weihnachten, und er hatte sich selbst ein kleines Geschenk besorgt.
Weitere Kostenlose Bücher