Die Erben der Nacht 04 Dracas
er gern erobert und sich einverleibt. Und das würden die heutigen Herrscher über das vereinte Fürstentum Walachei und Moldau noch immer
gern tun. Wir Siebenbürger Sachsen sind hier in der Minderzahl, genauso wie die Ungarn, aus deren Mitte seit jeher der hiesige Adel stammt. Und so streben die Besitzlosen danach, gemeinsam mit den Fürstentümern Moldau und Walachei eine Art Großrumänien zu gründen.« Sein Schnauben zeigte deutlich, was er davon hielt.
Alisa war weniger an den aktuellen politischen Querelen interessiert. Sie lenkte seine Aufmerksamkeit auf Dracula zurück.
»Man erzählt sich, Vlad habe sich eine Trutzburg in den Bergen gebaut«, sagte sie und sah den Alten aufmerksam an. Der nickte.
»Ja, sie befindet sich einige Meilen hinter dem Bergkamm. Ich habe sie auf meinen Reisen nach Curtea de Argeş selbst gesehen.«
»Wo genau? Kennen Sie den Weg dorthin?«, drängte Luciano. »Können Sie ihn uns beschreiben?«
Der Alte warf ihm einen Blick zu. Falls er sich über die Frage wunderte, so zeigte er es nicht weiter. Er nickte nur, hob seinen zittrigen Finger und deutete nach Süden.
»Aber ja. Doch jetzt im Dezember kommen Sie nicht über den Pass. Es hat Schnee gegeben. Man sagt, ein Schneesturm zieht über dem Făgăraşgebirge auf. Die Passstraßen über die Südkarpaten sind alle unpassierbar, bis auf die tiefer gelegene Route zum Roten Turm am Olt entlang vielleicht, aber die liegt ein ganzes Stück weiter im Westen.«
»Würden Sie uns dennoch den direkten Weg beschreiben?«, bat Alisa.
»Folgen Sie der Straße nach Westen bis Sachsenhausen, dann nach Süden, bis Sie die Brücke über den Olt erreichen. Vorbei geht es an den Ruinen des Klosters Kerz, das einst die östlichste Zisterzienserabtei gewesen ist, bis König Matthias Corvinus sie auflösen ließ. Aber weiter. Sie stoßen kurz darauf auf die Landstraße, die Hermannstadt mit Kronstadt verbindet. Kaum eine Meile Richtung Westen treffen Sie dann auf die Einmündung der Passstraße, die nach Süden direkt in die Berge hinaufführt. Höher und höher schraubt sie sich, bis die düsteren Tannenwälder unter Ihnen liegen und das Reich der Felsen beginnt. Zwischen den Gipfeln des Negoiu und des Moldoveanu führt die Straße über den Grat und dann wieder in Serpentinen steil hinab. Bald schon begleitet ein Bach
den Weg, der sich zu einem Flüsschen weitet, das sich sein Bett tief und tiefer in den Fels schneidet. Noch bevor sich sein Wasser mit dem Argeş vereint, ragt plötzlich ein Felsgrat rechts des Weges in die Höhe, aus dem die Mauern der Burg zu wachsen scheinen: die Festung Poienari. Natürlich habe ich den Fuß des Berges stets so rasch wie möglich und immer bei hellem Tageslicht passiert! Man erzählt sich nichts Gutes über diesen Ort und jeder vernünftige Mensch sollte ihn meiden. Ich jedenfalls habe von keinem gehört, der so verrückt gewesen wäre, dort hinaufzusteigen.«
Er lächelte ein wenig verlegen. »Ich bin natürlich kein abergläubischer Rumäne. Aber selbst wenn ich mir sage, der Fürst ist seit vielen Hundert Jahren tot, hat dieser Ort etwas abgrundtief Unheimliches, das mich erschaudern lässt.«
Alisa hörte dem Alten fasziniert zu. Erst als Franz Leopold ihr warnend in den Rücken stieß und zum Fenster wies, bemerkte sie, dass schon beinahe der Morgen anbrach. Rasch bedankte sie sich für die Auskünfte und verabschiedete sich. Die drei hasteten etwas überstürzt aus der Kirche.
»Und wohin nun?«
Sie stürmten die Treppe in den Glockenturm hinauf. Auf einer Plattform unterhalb des Geläuts ließen sie sich auf den staubigen Boden fallen.
»Na hoffentlich kommt der Alte nicht bis hier herauf«, meinte Alisa ein wenig besorgt.
»Und wenn, dann können wir es nun auch nicht mehr ändern«, entgegnete Luciano mit einem Gähnen, schloss die Augen und fiel zur Seite.
Alisa merkte noch, wie sich der Dracas neben sie setzte, dann fielen auch ihr die Augen zu und ihr Kopf sank auf Leos Schulter.
Wieder verging ein Tag im ratternden Rhythmus der Räder, die gleichmäßig über die Schienen rollten. Von Budapest aus waren sie über Oradea und dann in der Nacht bis Arad gefahren. Im zunehmenden Tageslicht glitten die Landschaften Siebenbürgens vor den Fenstern vorbei, während der Schienenstrang dem Tal
des Mureş folgte. Am frühen Nachmittag bogen sie ins Târnavatal ein. Nun war es nicht mehr weit bis Schäßburg. Bram spürte, wie es ihm immer schwerer fiel, still zu sitzen. Eine Nervosität
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