Die erregte Republik
bedienen. Stark überspitzt, aber nicht frei von Wahrheit hat Tom Schimmeck skizziert, wie es heute in den Redaktionen läuft: »Michael Jackson ist tot? Das ziehen wir durch – mit Sondersendungen, Serien, Bildbänden, CD-Editions und Kalendern. Boris Becker hat wieder ein Kind gezeugt? Das pushen wir tausendmal durch alle Kanäle, in hundert Sprachen, zeigen alle Bilder – im Urlaub, beim Shoppen, auf Partys. Wir verfolgen die Schwangerschaft, die Geburt, den Ehezwist, die Scheidung. Mit Enthüllungen und Interviews, heißen Schlüssellochspekulationen. Vielleicht läuft das Kind in 15 Jahren Amok? Opfer, Tränen, Entsetzen! Das wäre dann der ultimative, crossmediale Kick …« 129
|156| Im Geleitzug
Meinungsstärke wird in der Berliner Medienformation grundsätzlich groß geschrieben, die Faktenlage gerät darüber mitunter ins Hintertreffen – ganz im Einklang mit der schönen Feststellung des Broadway-Kolumnisten Walter Winchell, dass zu viel Recherche die schönste Geschichte kaputt macht. Patrick Bahners fragte im Frühsommer 2010, nach der von Schwarz-Gelb nur mühsam bestandenen Wahl Christian Wulffs zum Bundespräsidenten in der
F.A.Z.,
»auf welcher Art von Belegen eigentlich das erstaunlich einhellige Urteil der Journalisten beruhte, die Koalition stehe mehr oder weniger nah am Abgrund. Wie viel vom Dramatischen der Lagebeschreibungen ist aus den Veränderungen des Hauptstadtjournalismus zu erklären, der einer ganz neuen Konkurrenz um Aufmerksamkeit ausgesetzt ist und weniger Hemmungen als die Chronisten der Bonner Republik hat, die Ereignisse zu machen, die er aufzeichnet? Wer über das Innenleben einer Regierung berichtet, hat dasselbe Problem wie bei einer geheimen Wahl: Er kann nicht beobachten, worauf es ankommt.« 130 Genau deswegen aber wird die Spekulation so wichtig, haben Gerüchte und Deutungen einen so hohen Stellenwert. Lutz Hachmeister resümiert: »Die gefühlte Politik spielt eine immer größere Rolle, es werden Interpretationen von Interpretationen feilgeboten.« 131 Die Medien machen also Meinungen. Doch woher nehmen sie ihre Urteile, worauf gründen sie sie? Auffällig ist, dass selbst alles überwölbende Stimmungen oft auf höchst selektiven Analysen, einigen Gerüchten, dem Vorpreschen Einzelner und dem prompt einsetzenden journalistischen Herdentrieb beruhen. »Wenn alle fordern, Frau Merkel müsse stärker führen und mehr Stärke zeigen, lässt sich schwer dagegen halten, wie sie das denn, bitteschön, machen soll, wenn der kleinere Koalitionspartner nur |157| ein Mandat weniger hat als ihr eigener Verein und alles daran setzt, sie schlecht aussehen zu lassen«, sagt Thomas Kröter von der
Frankfurter Rundschau
in einem Interview. »Wenn alle Herrn Becks taktischen Fehler in Sachen Linkspartei mit hohem Ton zum Wortbruch und zur moralischen Katastrophe stilisieren, ist es schwer mit Tucholsky zu fragen: Ham Se’s nich ne Numma kleena? Das schöne ist: die Moden wechseln immer schneller. Bald zieht die Truppe einer neuen Kapelle hinterher.« 132
Im Zentrum der immer wieder aufs Neue angeheizten Gerüchteküche stehen vor allem Spekulationen darüber, wer in der Politik aus welcher machttaktischen Überlegung heraus welchen strategischen Zug gemacht hat. Denn diese zu diskutieren ist die Lieblingsbeschäftigung von Hauptstadtjournalisten. Dass es auch sachlich-inhaltliche Gründe für politische Entscheidungen geben kann, wird von ihnen oft überhaupt nicht mehr für möglich erachtet. Was es noch schlimmer macht: Die Medien unterstellen der Politik chronische Verlogenheit. Wohlfeile Entlarvungsrituale gehören deswegen fest zum Repertoire der Berichterstattung aus der Hauptstadt. Politikern wird pauschal unterstellt, etwas zu sagen, was sie gar nicht meinen, oder das, was sie wirklich wollen, keinesfalls zu sagen. Politik wird so aus der Perspektive der Medien als eine Reihe taktischer Winkelzüge und persönlicher Intrigen dargestellt, deren ganze Energie auf Machtgewinn oder -erhalt ausgelegt ist. Die Reformen der schwarz-gelben Koalition im zweiten Halbjahr 2010: alles nur hektische Aktivitäten, um Handlungsfähigkeit vorzutäuschen. Das Ringen um die Neugestaltung der Hartz-IV-Regelsätze für Kinder: ein Versuch der Sozis, sich bei Schwarz-Gelb zu rächen. Die Pauschalität, mit der heute der Politik jeder inhaltlich-programmatische Handlungsimperativ abgesprochen wird, muss jeden ernsthaft politisch Interessierten schmerzen. Ein geschwätziger
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