Die ewige Nacht: Die Legende von Wasgo (German Edition)
Wasgo ging langsam auf ihn zu. Er wollte den kleinen Zauberer nicht erschrecken.
Das kann doch unmöglich der große und berühmte Jodaryon sein, dachte Wasgo. Mit der Stimme eines zarten Jünglings sprach er den alten Zauberer an: „Sei gegrüßt, du großer Zauberer. Ich verneige mich vor dir. Ich möchte dich bitten, mir zu sagen, wie ich in das Land der verlorenen Sonne komme, du hast doch schon alles gesehen. Sage bitte, du großer Zauberer, bist du der große Jodaryon?“
Der alte Zauberer unterbrach seinen Gesang. Er sah den jungen Magier an. Ja, der war jung, aber er musste ein Zauberer sein, denn sonst wäre er nicht durch das Dickicht gekommen. Hier hatte sich einmal eine Zauberschule befunden. Doch war sie an dem Tag zerstört worden, als die Sonne verschwunden war. Am gleichen Tag war Jodaryon durch das Dickicht der Sträucher, die Wasgo gerade vor ein paar Minuten mit seinem Zauber gefügig gemacht hatte, gefangen gesetzt worden. Jodaryon hatte diesen Zauber nicht brechen können, weil ihm seine Macht ebenso genommen wurde.
Jodaryon musterte nun seinen jungen Besucher genauer. Der Junge hatte noch keinen Bart, aber die Vorboten waren schon da. Zarter Flaum hatte sich auf seiner Oberlippe gebildet. Er hatte ein ovales Gesicht und dunkelbraune Haare, die gewellt waren und die er halblang trug. Locker und leicht fielen sie am Nacken auf die Schultern. Er hatte eine gerade gewachsene Nase, braune Augen und sanft geschwungene Augenbrauen. Sein Mund war eher schmal. Seine langen, geraden Wimpern waren fast mädchenhaft. Er stand auf kräftigen und muskulösen Beinen, hatte schmale Hüften und breite Schultern. Seine Jugend strahlte aus ihm heraus.
Jodaryon, der auf Grund seiner langen Gefangenschaft hart und mürrisch war, konnte den Jungen, der sehr höflich war, gut leiden. So viel Schönheit hatte er bei einem Mann noch nie gesehen. Das glaubte der alte Mann wenigstens.
Innerlich musste Jodaryon über den jungen Mann lachen. Aber schroff sagte er: „He, sage einmal, bist du blind? Du sprichst von mir als einem großen Zauberer? Ich bin sechzig cm groß, aber warte, ich werde mich für dich etwas vergrößern.“ Um Jodaryon wurde es neblig, die Luft um ihn herum fing an zu zittern, als wenn man sie mit einem Feuer erwärmen würde und über die Flammen hinweg sah. Es ging alles sehr schnell. Jodaryon wuchs und wuchs und war nach wenigen Augenblicken ein normal großer Mann, genauso groß wie der Jüngling.
Der staunte, sah den Älteren fassungslos an und fragte: „Wie hast du denn das gemacht? Eben noch warst du so klein und jetzt bist du so groß! Wie macht man das? Ist es auch möglich, dass man sich verkleinern kann?“
Jodaryon wirkte nun noch mürrischer und sehr ungehalten. „Denke nach, junger Mann“, rief er fast zornig.
Wasgo erwiderte, dass es wohl so sein sollte. Wenn man sich vergrößern konnte, sollte man sich auch verkleinern können.
„Genau, mein Junge“, bemerkte Jodaryon zufrieden und forderte ihn auf, sich seiner Kleider zu entledigen.
Wasgo wollte wissen, warum er sich ausziehen sollte.
„Willst du nun die Sonne zurückholen oder nicht? Wenn du es willst, dann tue, was ich dir sage!“, befahl Jodaryon dem Jüngeren streng.
Der legte widerwillig sein Gewand ab. Als er seinen Oberkörper entblößt hatte, sagte der alte Zauberer: „Das reicht, drehe dich mit dem Rücken zu mir.“
Wasgo gehorchte und hörte Jodaryon leise sagen: „Du bist es, auf den ich so lange schon gewartet habe. Die Prophezeiung erfüllt sich.“ Die letzten Worte sprach Jodaryon fast ehrfürchtig aus. Doch dann verfiel er wieder in seinen alten groben und ungehobelten Ton und sagte: „Schnell, zieh dich wieder an und folge mir.“
Ohne abzuwarten, bis Wasgo sich angezogen hatte, ging Jodaryon schnell auf den Weg und eilte mit großen Schritten weiter in den Wald hinein. Wasgo musste ihm hinterherlaufen. Beim Laufen zog er sich an. Er konnte kaum mit dem alten Mann mithalten. „Wo läufst du denn hin, warte doch auf mich“, rief er und beeilte sich zu Jodaryon aufzuschließen.
Der erklärte ihm: „Du hast dich auf eine gefährliche Mission eingelassen. Du musst mir vertrauen und du musst schnell sein in allem, was wir tun. Sonst werden wir sterben. Du hast immer nur eine Chance. Nimmst du sie nicht wahr, werden wir beide sterben. Das will ich aber nicht, ich bin erst sechshundert Jahre alt, habe also noch mein halbes Leben vor mir. Du bist noch ein Baby und musst nur tun, was ich dir
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