Die Farben der Finsternis (German Edition)
Gesellschaft neidischer Toter. Wenn es keine Schatten gab, konnten sie auch nicht darin lauern. Sein rechtes Nasenloch war taub und sein Gaumen brannte. Er trank einen Schluck Bier, um das Brennen runterzuspülen. Er zog sich die Lines nicht oft genug rein, um richtig high zu werden, aber zum ersten Mal an diesem Tag fühlte er sich richtig wach. Kokain gehörte in diese Welt, daran konnte es keinen Zweifel geben. Er hatte es vermisst.
Am Computer sichtete er alte Zeitungsberichte und Online-Nachrichten, in denen es um den tödlichen Unfall der Eltern des angeblich toten Babys ging. Er fand ein Foto von Elizabeth und Owen Gray, auf dem sie sorglos in die Kamera lächelten. Die Frau war erkennbar schwanger. Ein anderes Foto war in dem verhängnisvollen Urlaub aufgenommen worden; das Paar lächelte immer noch, aberder Ausdruck erreichte nicht mehr ihre Augen und beide wirkten dünner und hatten Falten, von denen nur wenige Monate zuvor nichts zu sehen gewesen war.
Unwillkürlich fühlte Cass sich ihnen verbunden. Die Gesichter waren ihm fremd, aber sie zupften an seinem eigenen verletzten Herz. Er zog sich eine weitere Line. Scheiß drauf. Vielleicht war es genau das Richtige für ihn, high zu werden. Auf der Welt gab es zu viele Verluste. Von seiner eigenen Familie war niemand mehr am Leben; war das »tote« Kind dieses Paars das geliebte Kuckucksküken im Nest der Familie Jones gewesen? Sie waren blond wie Christian und Jessica Jones; hatten sie auch die passende Blutgruppe gehabt?
Welche Entscheidungen hatten sie getroffen, die ihnen dieses Schicksal beschert hatten? Oder hatte ein anderer die Wahl für sie getroffen? Er musterte die Patientenakten, die Jordan für ihn ausgegraben hatte: Jessica Jones und Elizabeth Gray hatten innerhalb weniger Minuten Kinder geboren, aber während Jessica das Kind auf natürliche Weise zur Welt gebracht hatte, hatte Jordan vergessen, den Kaiserschnitt von Elizabeth Gray zu erwähnen. War das geplant gewesen? War Elizabeths Schwangerschaft streng beobachtet worden, während die glücklichen Eltern gnädigerweise nichts davon wussten, dass sie einen Plan für ihren Erstgeborenen hatten, in dem die natürlichen Eltern nicht vorkamen?
Er schrieb sich die Fragen auf, die er den Großeltern stellen wollte: Für wen hatte Owen gearbeitet? Warum war er privat versichert? Gab es irgendwelche ungewöhnlichen Ereignisse im Vorfeld von Lukes – er strich den Namen wieder durch; das Kind hieß Ashley , nicht Luke – Ashleys Geburt? Waren die Großeltern bei der Geburt dabei gewesen? Wann hatten sie das Baby zum letzten Mal gesehen?Er lehnte sich im Sessel zurück. So viele Fragen, die alte Narben wieder aufrissen – und Cass konnte dem alten trauernden Paar letzten Endes nicht einmal etwas Positives zurückgeben. Selbst wenn er ehrlich wäre – was sollte er sagen? Ja, dem Krankenhaus war ein Fehler unterlaufen und Ihr echter Enkel hat gelebt, bis eine Kugel ihn im Schlaf zerfetzt hat? Das wäre ein hübsches Päckchen, das sie in ihren letzten Jahren noch zu tragen hätten. Gewisse Wahrheiten waren den Menschen wirklich nicht zuzumuten. Er könnte ihnen Fotos zeigen und Anekdoten erzählen, aber sie würden den Jungen nie kennenlernen. Nein, das ließ er besser sein. Sie hatten sicher ihren Frieden damit gemacht, bevor sie ihre Tochter verloren hatten.
Sein Körper tanzte im Rausch, aber obwohl die Droge physisch ihren Job tat, zog sie ihn mental runter, statt seine Stimmung zu heben. Er dachte an Claire und Kate und an Christians Familie und seine Eltern, die alle gestorben waren, und keiner von ihnen eines natürlichen Todes. Umgab ihn eine Wolke des Todes? Wie konnte es sein, dass er davon unberührt blieb?
Er zündete sich eine Zigarette an und ging zum Rauchen ans Fenster. Vielleicht sollte er die Suche nach dem Jungen wieder abblasen. Der sterbende Anwalt hatte möglicherweise recht und manche Briefumschläge sollten lieber versiegelt bleiben. Er atmete in die Londoner Luft aus. Doch Cass hatte den Umschlag geöffnet und konnte die Bitte seines toten Bruders nicht einfach ignorieren. Er war es Christian schuldig, dem guten Bruder. Er schuldete es seiner ganzen Familie.
Als die Geigenmusik zu ihm nach oben drang, war er nicht überrascht. Diesmal spielte der Landstreicher »Summertime« und hielt jeden Ton perfekt zwischen Bogen und Saiten. Cass sah gar nicht nach unten. Es war ihm egal, werder Musiker war und was er wollte. Seinetwegen sollte er sich verpissen und woanders
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