Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
dass ihm stets nur der Rücken zugekehrt worden war.
»Ja, vielleicht.«
»War eins davon wichtiger als die anderen?«
Treslove seufzte, ein Seufzer aus den tiefsten Tiefen seiner Schuldgefühle und Ängste. »Kann ich nicht sagen«, erwiderte er.
»Dann lass es mich für dich sagen. Am wichtigsten war das Jüdische für dich.«
Treslove beugte sich über den Tisch, um Libor am Weiterreden zu hindern. »Du weißt schon«, sagte er, »dass Tyler keine Jüdin war. Ich hielt sie dafür, aber wie sich dann herausstellte, war sie keine.«
»Du klingst enttäuscht.«
»War ich auch, ein bisschen.«
»Also behaupte ich erst recht, dass es das Jüdische war. Und ich weiß, dass es das Jüdische war, weil das, was du jetzt von Sam und Hephzibah befürchtest, es bestätigt.«
Treslove schaute ihn an, den Mann ohne Verdauungsapparat, der ihm Rätsel auftischte. »Da komme ich nicht mehr mit«, sagte er.
»Was wirfst du Sam und Hephzibah vor? Dass sie zusammen Sex haben. Hast du dafür Beweise? Nein, nur die Vermutung, dass sie es miteinander treiben, weil sie etwas gemeinsam haben, wovon du ausgeschlossen bist. Sie sind Juden, du nicht, also vögeln sie miteinander.«
»Ach, Libor.«
»Ganz wie du willst, aber du hast keine bessere Begründung für deinen Verdacht. Und du bist nicht der erste Goi, der den
Juden Lüsternheit nachsagt. Wir hatten sogar schon mal Hörner und einen Schwanz wie die Ziegen oder der Teufel. Wir vermehren uns wie Ungeziefer. Wir besudeln christliche Frauen. Die Nazis …«
»Hör auf, Libor, das ist dumm und verletzend.«
Der alte Mann lehnte sich zurück und rieb sich über den Kopf. Früher einmal hatte er eine Frau gehabt, die ihm den Schädel rieb, die lachte, wenn sie ihn polierte, wie eine Hausfrau, die Spaß an ihren Pflichten hat. Doch das war lange her.
Verletzend? Er zuckte die Achseln.
»Es beschämt mich zutiefst«, sagte Treslove, »dass ich es dir erzählt habe.«
»Es beschämt dich zutiefst? Noch etwas, das du mit ihm teilst.«
»Hab Erbarmen«, flehte Treslove.
»Du hast angefangen, Julian«, sagte Libor. »Du hast mich eingeladen, um über deine Befürchtung zu reden, dass es Sam und Hephzibah miteinander treiben könnten. Ich habe dich gefragt, welche Gründe du für deinen Verdacht hast, und du sagst, es sei eine unbestimmte Befürchtung. Ich bin dein Freund – also strenge ich mich an, die Gründe für dich aufzudecken. Du schreibst den beiden seltsame und geheime sexuelle Kräfte zu, und deshalb hast du Angst. Du glaubst, sie könnten sich nicht zurückhalten, weil sie beide von einer unbeherrschbaren sexuellen Gier getrieben werden, von Jude zu Jude, und du denkst, sie werden sich nicht zügeln, weil sie von Jude zu Goi skrupellos sind. Julian, du bist ein Antisemit.«
»Ich?«
»Tu nicht so erstaunt. Du bist nicht allein. Wir sind alle Antisemiten. Wir haben gar keine Wahl. Du, ich, wir alle.«
Er hatte keinen einzigen Bissen gegessen.
4
Sie gingen zusammen ins Theater – Hephzibah, Treslove und Finkler. Es war Tresloves Geburtstag, und da für Hephzibah jeder Tag eine Party war, hatte sie stattdessen das Theater vorgeschlagen. Libor war ebenfalls eingeladen, aber ihm gefiel nicht, was er über das Stück gehört hatte.
Niemandem gefiel, was man so über das Stück hörte, aber wie Finkler schon sagte: Geht man nicht ins Theater, wenn einem missfällt, was man über die Aufführung hört, wann geht man dann? Außerdem war das Stück nur für eine Woche angesetzt, eine Agitprop-Inszenierung, die eine Flut von wütenden und begeisterten Leserbriefen auslöste. Ganz London sprach von nichts anderem.
»Bist du sicher, dass dir dadurch nicht dein Geburtstag verdorben wird?«, fragte Hephzibah, der Zweifel gekommen waren.
»Ich bin doch kein Kind mehr«, erwiderte Treslove, setzte aber nicht hinzu, dass ihm sowieso alles den Geburtstag verdarb, weshalb es aufs Theater nicht mehr ankam.
Das Stück hieß Söhne Abrahams und schilderte das Leid des auserwählten Volkes von alters her bis in die Gegenwart, in der es beschloss, das Leid nun anderen zuzufügen. Die letzte Szene bot ein gut inszeniertes Bild der Zerstörung, nichts als Rauch, wummernde Bleche und Wagnermusik, zu der die Auserwählten wie Teufel in Zeitlupe tanzten, brüllten, johlten und mit Händen und Füßen im Blut badeten, das wie Ketchup aus den Leichen ihrer Feinde quoll, von denen nicht wenige Kinder waren.
Finkler, der neben Hephzibah und Treslove saß, stellte anhand des Programms
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